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17 ist das neue 35 in der Bundesliga

Alle sprechen jetzt von der neuen Jugend, und das finde ich toll, ich liebe Veränderung im Fußball – in Deutschland gibt es sie nämlich viel zu selten. Immer wieder blieb uns in der Vergangenheit nur angesichts dramatischer Misserfolge quasi nichts anderes übrig, als zu verändern.

Wir haben mit Libero gespielt, als der in Italien schon im Museum ausgestellt wurde, wir haben uns lange den neuen Trainingsmethoden aus den USA verweigert, weil sie ja aus den USA oder von Klinsi kamen. Die Raumdeckung haben wir bis zum letzten Atemzug ignoriert, weil der “Raum keine Tore schießt", wie mir ein Bundesligatrainer mal mitteilte.

Generell haben wir bis vor 20 Jahren Taktik für ziemlich unnötig gehalten und uns lieber auf Waldlauf verlassen, Klappmesser gemacht und das Beckenbauersche "Geht’s raus und spielt’s Fußball" verfolgt.

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Und das Thema Nachwuchs haben wir erst ernstgenommen, als uns die Franzosen vorgemacht haben, wie das geht. Wenn nämlich bei uns damals ein sehr junger, sehr guter Spieler auftauchte, haben unsere alten Trainer wissend den Kopf geschüttelt und gesagt: Nene, lass mal, der muss GANZ LANGSAM aufgebaut werden. Das hieß für den jungen Mann, dass einen Spieltag später wieder ein alter von Beginn an kickte, und er selbst wieder nur eingewechselt wurde.

Rehhagel und Hitzfeld bauten beide nicht auf Talente

Und wenn der Junge dann erneut überragend spielte, sagte der Trainer gleich nach Abpfiff in alle Mikros: Nene, Leute, der braucht PAUSEN, den bauen wir GANZ LANGSAM auf!

Und irgendwann waren viele dieser jungen Talente dann alt und wurden ganz langsam abgebaut, während Trainer wie etwa Otto Rehhagel weiter auf Spieler setzten, die sich nach dem Abpfiff in der Umkleide die ersten grauen Haare auszupften, und Ottmar Hitzfeld beim FC Bayern mit vorgehaltener Pistole gezwungen werden musste, auf Nachwuchs zu setzen. Andere Ligen machten das da schon längst anders: Da haben sehr junge Spieler einfach sehr oft gespielt. Warum? Weil sie halt sehr gut waren.

Borussia Dortmund ist seit Jahren die heißeste Adresse für Talente. Gegen Borussia Mönchengladbach überzeugten Jude Bellingham, Gio Reyna und Erling Haaland erneut. Aber warum spielen so viele Top-Talente beim BVB?

Und jetzt ist bei uns plötzlich auch alles anders, am Wochenende habe ich meinen Augen kaum getraut. Überall kicken plötzlich Unvolljährige! Sechs 17-Jährige kamen am ersten Spieltag zu Einsatz. Und wie sie zum Einsatz kamen!

BVB-Rasselbande mit Reyna, Bellingham und Co

Bei Borussia Dortmund glänzten gegen Mönchengladbach beim 3:0 (der LIVETICKER zum Nachlesen) Jude Bellingham und Giovanni Reyna, beide 17 Jahre alt, ganz wunderbar und vom Anpfiff weg an der Seite der etwas in die Jahre gekommenen Erling Haaland und Jadon Sancho (beide 20). Endlich müssen 17-Jährige nicht mehr immer wieder neu auf ihre Chance warten, sondern sie bekommen reichlich Gelegenheit, sie zu nutzen.

Florian Wirtz stand beim 0:0 der Leverkusener in Wolfsburg in der Startaufstellung, beim FC Bayern wurde Jamal Musiala eingewechselt und schoss gegen Schalke gleich das 8:0, Momo Cissé kam für den VfB Stuttgart zum Einsatz, Paul Nebel durfte bei Mainz ran.

Und dann sind da noch der Herthaner Luca Netz und Maximilian Beier aus Hoffenheim. Aber der Beste kommt ja erst noch: Dortmunds Welt-Jugendlicher Youssoufa Moukoko. Warum der am Wochenende nicht spielte? Na, weil er erst 15 (!) ist! Aber er wird im November 16 (!) und darf dann wegen einer DFL-Neuregelung (!) spielen. Herrliche Zeiten, oder?

Schlechte Zeiten höchstens für Hersteller von Rasierapparaten, die Testimonials suchen.

Alex Steudel ist Sportjournalist und seit seiner Kindheit glühender Sportfan. Mitte März brach alles weg: Kein Livesport mehr weit und breit. Um den Entzug erträglich zu machen, stieg Steudel auf eine Ersatzdroge um: Dokumentationen oder Biografien – meistens, aber nicht immer handeln sie von Fußball. Es geht ihm inzwischen viel besser. Ach was, es geht ihm super: Er hat eine neue Welt entdeckt. In dieser Kolumne erzählt er davon.