Der schlimmste Unfall der Tour-Historie

25 Jahre danach ist der Ort des Grauens ein friedvolles Fleckchen. Hin und wieder halten Radfahrer inne, stoppt ein Auto an dieser eigentümlichen Sonnenuhr aus weißem Stein an der wenig befahrenen Departement-Straße 618 beim Pyrenäen-Örtchen Boutx.

Wer länger verweilt und liest, was auf der dort angebrachten Gedenktafel geschrieben steht, ahnt leise, welche Tragödie sich hier vor einem Vierteljahrhundert beim schlimmsten Rennunfall in der Geschichte der Tour de France ereignete.

Am 18. Juli 1995 endete das Leben von Fabio Casartelli auf brutale Weise. Casartelli war drei Jahre zuvor Olympiasieger in Barcelona geworden, war ein über alle Maßen sympathischer und im Peloton beliebter Kerl. Und vor allem war der Italiener erst 24 Jahre alt, als er seinen Wagemut so teuer wie nur möglich bezahlte.

"Er ist einfach ein großartiger Junge gewesen. Fabios Tod hat mir erst gezeigt, worum es bei der Tour wirklich geht", sagte Lance Armstrong, damals 23 Jahre alt und bei jener Frankreich-Rundfahrt Casartellis Teamkollege im Motorola-Team.

Nie ließ Armstrong, dieser spätere Erzbösewicht seiner Sportart, einen Zweifel daran, dass ihn neben seiner Krebserkrankung vor allem das Schicksal Casartellis prägte.

Mit Kopf voraus auf Begrenzungsstein

Für den Radsport war es eine Katastrophe wie zuvor nur der tödliche Zusammenbruch von Tom Simpson 1967 am Mont Ventoux.

Die ungeschminkten TV-Bilder des schwer verletzten Casartelli, die zur besten Nachmittags-Sendezeit live in Millionen von Haushalten landeten, nahmen dem Radsport seine verklärte Unschuld - Jahre bevor die Armstrongs und Co. die vermeintlich edle Sportart in die Schmuddelecke stellten.

25 Jahre nach der Tragödie ist das Geschehen hinreichend untersucht: ein Rennunfall eben. Und doch in seiner Drastik erschreckend.

Auf der halsbrecherischen, teils über 17 Prozent steilen Abfahrt vom Portet d'Aspet flogen Casartelli, sein Landsmann Dante Rezze und der Deutsche Dirk Baldinger bei Tempo 90 ab, die D618 glich einem Schlachtfeld. Baldinger erlitt einen offenen Hüftbruch, doch Casartelli, das war sofort ersichtlich, hatte es viel schlimmer erwischt.

Der Jungprofi aus Como war mit dem Gesicht voran auf einen Begrenzungsstein geprallt. Erbarmungslos hielten die Kameras fest, wie Casartelli bewusstlos auf dem flirrenden Asphalt lag, das Blut in Strömen aus seinen Wunden schoss. Innerhalb von zehn Sekunden waren die Ärzte bei ihm, konnten ihn reanimieren - doch drei Stunden später starb Casartelli im Krankenhaus von Tarbes.

Helmpflicht erst acht Jahre später eingeführt

Armstrong erfuhr im Rennen per Funk vom Tod des Kollegen. "Wir mussten die Etappe zu Ende fahren, auch wenn wir vom Schock wie gelähmt waren", schrieb er in seinem Buch "Tour des Lebens".

Ein Helm, den 1995 kaum ein Fahrer trug, hätte Casartelli womöglich gerettet. Dennoch dauerte es bis 2003, als der Kasache Andrej Kiwilew bei Paris-Nizza starb, ehe der Weltverband die Kopfschutzpflicht im Rennen durchsetzte.

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Die Tour 1995 indes ging nach nur kurzem Innehalten weiter, die Etappe am Tag nach dem Drama wurde als Gedenkfahrt ausgetragen, das Motorola-Team radelte stumm voran.

Drei Tage nach dem Tod des Kollegen gewann Armstrong die Etappe nach Limoges, im Ziel deutete er gen Himmel. Sein bitterster Sieg bleibt einer der wenigen, die Armstrong knapp zwei Jahrzehnte später nicht aberkannt werden.