ARD-Iran-Korrespondentin Natalie Amiri: “Das Regime zittert massiv davor, dass die Mannschaft Erfolg hat“

Iran ist das einzige der 32 Teilnehmerländer der WM, in dem Frauen nicht in ein Fußballstadion dürfen. Aus Angst vor einer Revolution gibt es kaum Public Viewings, so fürchtet Regierung sogar ein erfolgreiches Abschneiden bei der WM. Die deutsch-iranische Journalistin und ARD-Korrespondentin Natalie Amiri spricht im Interview mit Yahoo Sport Deutschland über den Fußball im unterdrückten Land und erklärt, warum es noch keine große WM-Euphorie gibt – sich das aber jede Sekunde ändern kann.

Ein Interview von Patrick Strasser

Natalie Amiri (Foto: privat)
Natalie Amiri (Foto: privat)

Frage: Iran ist das einzige Teilnehmerland dieser WM, in dem Frauen nicht ins Stadion dürfen. Im Zuge der “Islamischen Revolution” von 1979 setzten die schiitischen Geistlichen ein entsprechendes Gesetz in Kraft. Frauen werden in dem streng-religiös regierten Land systematisch unterdrückt und benachteiligt, sind den Männern rechtlich nicht gleichgestellt. Es herrscht Kopftuchzwang. Fünf Mädchen, die sich im April als Männer verkleidet ins Nationalstadion von Teheran geschlichen haben, wurden in den sozialen Netzwerken zu Heldinnen. Was ist den Mädchen mit den Perücken und angeklebten Bärten passiert, Frau Amiri?

Natalie Amiri: Bisher noch nichts, sie sind noch nicht abgeholt worden. Seit Jahren versuchen iranische Frauen in die Stadien zu kommen. Es ist ein kleiner Aufstand, ihre eigene kleine Revolution gegen das Regime. Über die sozialen Medien lassen sie sich für ihren Coup feiern. Das wiederum ist dann ein Ansporn für andere Frauen, es ebenfalls zu versuchen. Von offizieller Seite wird das Thema totgeschwiegen.

Frage: Zuvor hatten im März 35 Frauen versucht, ein Spiel im Teheraner Azadi-Stadion zu besuchen. Sie wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen. Azadi heißt auf Persisch „Freiheit“ – ein scheinheiliger Name. Angeblich sei die Atmosphäre auf den Tribünen zu maskulin, zu laut und zu vulgär, so die Begründung der Geistlichen.

Amiri: Ja, mit der Begründung machen es sich die Offiziellen einfach. Das iranische Futsal-Nationalteam der Frauen ist vor kurzem Asienmeister geworden. Und was überträgt das Staatsfernsehen stattdessen? Die Eishockey-WM der Männer. Die Frauen-Nationalmannschaft des Iran wird überhaupt nicht unterstützt. Sie bekommen deshalb auch keine Sponsoren, weil das TV deren Spiele nicht zeigt.

Frage: Als im Mai das Bundesliga-Spiel zwischen dem 1. FC Köln und dem FC Bayern live im TV übertragen wurde, zeigte das iranische Staatsfernsehen Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus nur in der totalen Kameraeinstellung, bei Nahaufnahmen blendete man stattdessen Zuschauer ein.

Amiri: Ein anstrengendes Spiel für die Zensurmeister im Iran. Generell wird jedes Spiel mit einer zehn- bis 15-sekündigen Verzögerung des Welt-Bildes übertragen. Auch bei einer WM. So können sie Frauen, die auf den Tribünen sitzen heraus- und andere Bilder rein schneiden. Bei Steinhaus hat man auch versucht, die Realität herauszuschneiden – im 21. Jahrhundert. In Irans sozialen Netzwerken wird das mit enorm viel Ironie und Sarkasmus bestraft.

Frage: Werden die sozialen Medien nicht vom Staat zensiert?

Amiri: Natürlich. Überall, wo es geht. Zuletzt wurde der „Telegram Messenger“ gesperrt, den etwa 40 Millionen der 80 Millionen Iraner genutzt haben – eine riesige Einschränkung. Auch für uns Journalisten. Denn über Staatsmedien bekommt man keine Informationen, was etwa in den Provinzen des Landes passiert. Aber die Iraner sind spitzfindig und finden immer neue Möglichkeiten, über VPN, ein virtuelles privates Kommunikationsnetz, die Zensur zu umgehen.

Das Stadionverbot für Frauen steht in der Bevölkerung in der Kritik. (Foto: getty images)
Das Stadionverbot für Frauen steht in der Bevölkerung in der Kritik. (Foto: getty images)

Frage: Wie groß ist die Euphorie rund um das Männer-Team mit Blick auf die WM in Russland?

Amiri: Die aktuellen Unruhen im Land haben die Euphorie genommen, weil die Menschen in ihrem Alltag zu viele Probleme und Sorgen haben. Die hohe Arbeitslosigkeit, der Währungsverfall von 34 Prozent, die Preissteigerungen, ausbleibende Auszahlung der Gehälter, dadurch bedingte Hungersnöte – das alles hat Priorität. Es brodelt im Land immer mehr, tagtäglich gibt es Proteste. Von Bauern, Lehrern, LKW-Fahrern. Aktuell entwickelt sich daraus aber keine Bewegung, weil es keinen Plan und keinen Anführer gibt. Nur die hartgesottenen Fußballfans konnten sich wirklich auf das Turnier freuen. Aber die Euphorie könnte schnell entfacht werden.

Frage: Bei allen vier bisherigen WM-Endrunden-Teilnahmen schied Iran in der Gruppenphase aus.

Amiri: Sollte Iran auch nur ein Tor schießen, dann strömen die Menschen auf die Straßen und feiern – und zwar alle. Rein sportlich haben sie eine harte Gruppe erwischt mit Spanien und Portugal plus Marokko. Man hofft, das Auftaktspiel gegen Marokko irgendwie zu gewinnen, um dann wenigstens Dritter zu werden. Iran ist beileibe kein Geheimfavorit, baut aber auf eine stabile Defensive. In der Asien-Qualifikation blieb man unbesiegt, kassierte erst dann zwei Gegentreffer als man das Ticket für Russland bereits sicher hatte.

Frage: Wie verfolgen die Iraner eine WM? In Cafés und Restaurants? Gibt es gar Public Viewing?

Amiri: Nein, Public Viewing kennt man dort nicht. Schon gar nicht in den Ausmaßen wie in Deutschland mit Riesenleinwänden in Biergärten und ein paar Tausend Zuschauern. Jede Ansammlung von Menschen, auch wenn es nur 20, 30 Leute sind, bedeutet im Iran eine Gefahr für die nationale Sicherheit. Deswegen hatte man es sogar den Cafés verboten, Fußball zu zeigen. Dies wurde widerrufen. Die Cafés dürfen jetzt doch Leinwände aufstellen und bereiten sich auf die WM vor. Aber man sollte sich darauf nicht verlassen. In letzter Sekunde könnte der Geheimdienst das Ganze verbieten.

Frage: Dann bleibt den Iranern lediglich, zu Hause zu schauen.

Amiri: Was sie gewohnt sind. Ihr Privatleben findet im Grunde komplett zu Hause hinter verschlossenen Türen statt. Familienfeiern, Partys – fast alle Freizeitaktivitäten. Sollte ein Tor fallen, kommen die Menschen auf die Straßen. Das ist ja die größte Angst des Geheimdienstes und der Sicherheitskräfte.

Frage: Dann könnte es gefährlich werden, falls resolut dazwischengegangen wird.

Amiri: Ja, denn wenn dann Hunderttausende bzw. Millionen Menschen auf den Straßen sind, können die Sicherheitskräfte nichts mehr machen. Bei der WM 1998 gewann Iran mit 2:1 gegen die USA, da waren die feiernden Massen nicht mehr zu halten. In solch einer euphorischen Stimmung wird kein Gesetz mehr beachtet. Bei lauter Musik wird auf den Autos getanzt, die Frauen ziehen sich die Kopftücher ab. Es ist auch schon vorgekommen, dass die Menschen die Sicherheitskräfte zum Tanzen aufgefordert haben. Für einen Moment sind dann alle Restriktionen und Mauern vergessen. Denn eigentlich wollen alle nur eins: glücklich sein und feiern.

Frage: Könnten die Unruhen während der WM zu einem Aufstand führen?

Amiri: Das Regime zittert massiv davor, dass die iranische Mannschaft in Russland Erfolg hat. Das Regime wünscht sich keinen Sieg, will lieber einen negativen Ausgang – unausgesprochen natürlich. Hassan Rohani, der Staats- und Regierungschef, hat sich nicht zur WM geäußert oder dem Team viel Glück gewünscht. Der Revolutionsführer Ayatollah Sejjed Ali Chamenei und die gleichgeschalteten Medien sowieso nicht.

Frage: Damit dürfte Iran das einzige Team der 32 Teilnehmerländer sein, deren Regierung auf Distanz zur Landesauswahl geht.

Amiri: Selbst Saudi-Arabien würde ein Erfolg ihrer Nationalelf im Zuge der Öffnung des Landes in die aktuelle PR-Struktur ihr Land positiv zu verkaufen ganz gut reinpassen.

Natalie Amiri vor der Kamera. (Foto: privat)
Natalie Amiri vor der Kamera. (Foto: privat)

Zur Person: Natalie Amiri (* 11. August 1978 in München) ist eine deutsch-iranische Hörfunk- und Fernsehjournalistin. Seit dem 30. März 2014 moderiert sie den Weltspiegel aus München, außerdem das BR-Europa-Magazin „euroblick“ und leitet seit 2015 das ARD-Studio in Teheran.