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ARTE wird 30: Einig europäisches Fernsehen auch in Krisenzeiten

Europäische Verständigung in Gestalt eines Fernsehsenders: ARTE wird 30. (Bild: ARTE /Frédéric Maigrot)
Europäische Verständigung in Gestalt eines Fernsehsenders: ARTE wird 30. (Bild: ARTE /Frédéric Maigrot)

Aus Europa für Europa: Seit 30 Jahren sendet ARTE über Grenzen hinweg - und überschreitet auch jene in den Köpfen. In Zeiten von Krieg, Krisen, Nationalismus und Skepsis am europäischen Gedanken braucht es den deutsch-französischen Kulturkanal umso dringlicher.

Es ist an tragischer Symbolik kaum zu übertreffen: Wenn der Fernsehsender ARTE, seit jeher medialer Botschafter europäischer Freundschaft und Verständigung, nun drei Jahrzehnte seines Bestehens feiert, herrscht andernorts in Europa wieder Krieg. Der Angriff Russlands auf die Ukraine stellte so manches aufgeklärte Selbstverständnis infrage - und macht auch nicht Halt vor dem deutsch-französischen Kulturkanal, dessen Gewissheiten auch jene des westeuropäischen liberalen Bürgertums waren, in dessen Kreisen man einen bewaffneten Konflikt auf dem Kontinent bis zuletzt für schier unmöglich hielt. Dass die politische Realität anders aussieht, ist schmerzhaft - zeigt aber umso mehr, wie dringlich es einen Fernsehsender wie ARTE heute braucht. Was bisweilen als distinktionsgetriebenes Überbleibsel eines längst realisierten gesamteuropäischen Traums belächelt wurde, erweist sich in Zeiten von Krieg, Nationalismus und wachsender Skepsis am europäischen Gedanken als unverzichtbar.

"In einem krisenerschütterten Europa ist es wichtiger denn je, unseren Beitrag für die Kultur in Europa, für ihre Strahlkraft und ihr Wirken über nationale Grenzen hinaus, zu leisten", drückte es Senderchef Bruno Patino bei einer Pressekonferenz anlässlich des runden Jubiläums aus. Und es stimmt: ARTE, vor drei Jahrzehnten als öffentlich-rechtliche Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland auf Sendung gegangen, ist noch immer jener Kanal, der nicht nur über Grenzen hinweg sendet - sondern regelmäßig auch die vielzitierten Grenzen in den Köpfen überschreitet, die gut und gerne als eine der Ursachen vieler zeitgenössischer Konflikte gelten dürfen. Die aktuelle Situation zeige, so Vizepräsident Weber gegenüber den Journalistinnen und Journalisten, wie wichtig der Zusammenhalt in Europa sei: "ARTE, das gegründet wurde, um genau diesen Zusammenhalt und dieses Verständnis zu fördern, ist kein bloßes Nice-to-have".

Historischer Moment: Am 30. Mai 1992 ging ARTE auf Sendung. Jérome Clément (links), Präsident von La SEPT, und  Dietrich Schwarzkopf, damaliger Programmdirektor der ARD, geben den Startschuss. (Bild: ARTE)
Historischer Moment: Am 30. Mai 1992 ging ARTE auf Sendung. Jérome Clément (links), Präsident von La SEPT, und Dietrich Schwarzkopf, damaliger Programmdirektor der ARD, geben den Startschuss. (Bild: ARTE)

Kein gewöhnliches Jubiläum

Wenn ARTE dieser Tage den Beginn seines Sendebetriebs vor 30 Jahren feiert, handelt es sich eben mitnichten um ein gewöhnliches Jubiläum. Sondern um ein Symbol: für das Überleben eines Mediums, dessen Existenz angesichts quotengetriebener Privatfernsehindustrie und öffentlich-rechtlicher Programmglattbügelei eigentlich ziemlich unwahrscheinlich ist. Dass ARTE noch immer vermittelt, Kritik übt und Wagnisse eingeht, darf und sollte man daher ausgiebig feiern. Der Sender selbst hat dafür ein besonderes Programm zusammengestellt, dass "beispielhaft für seinen Auftrag" stehen soll - zudem geht eine hübsch aufgemachte Website online, auf der ARTE sich selbst zelebriert und auf seine Vergangenheit zurückblickt (https://corporate30.arte.tv/de/).

Im Nachhinein mutet die Geschichte wundervoll symbolisch an: Am 30. Mai 1992, einem heiteren Frühlingstag, stirbt mit dem Ex-Bundespräsidenten Karl Carstens einer der vom Nazifilz durchsetzten Repräsentanten der alten BRD. Am selben Tag beschließt die UN aufgrund des Balkankriegs ein Embargo gegen Jugoslawien, das den kaputten Staat von der Fußball-EM ausschließt (und den späteren Europameister Dänemark aufrücken lässt); eineinhalb Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung geht der Ostblock endgültig zugrunde. Alte Ordnungen zerfallen, ein chaotisches Jahrzehnt beginnt, das zugleich zum europäischsten werden sollte. Welch' Zeichen, dass genau an jenem 30. Mai vor 30 Jahren ein Fernsehkanal zu senden beginnt, wie er europäischer nicht sein könnte. An diesem Abend läuft auf ARTE Wim Wenders' "Himmel über Berlin".

In einem Staatsvertrag zwischen den damaligen Regierungschefs Helmut Kohl und François Mitterand als gemeinsames Fernsehprojekt beschlossen, ist ARTE seitdem aus den Beziehungen der einstigen Feinde nicht wegzudenken. Vermittlung, Verständigung, Austausch - dafür steht der Sender mit Sitz in Straßburg noch immer. Einigen gefiel das anfangs nicht: In Frankreich beäugte man das gemeinsame Tête-à-Tête mit dem einstigen Erbfeind ebenso skeptisch wie das größere, wiedervereinigte Deutschland. Dort wiederum stieß das als politisch forciert wahrgenommene Projekt bei den Etablierten auf Misstrauen: ARTE bediente sich schließlich wie die Öffentlich-Rechtlichen aus dem Topf der Gebührenzahler.

1991 wurde der Vertrag zur Gründung von ARTE GEIE unterzeichnet. (Bild: ARTE / Archives Ville de Strasbourg/E. Laemmel)
1991 wurde der Vertrag zur Gründung von ARTE GEIE unterzeichnet. (Bild: ARTE / Archives Ville de Strasbourg/E. Laemmel)

"François, wenn Sie nicht aufhören, mich zu ärgern ..."

Aller Skepsis zum Trotz: ARTE war gekommen, um zu bleiben. Und sendete in den vergangenen Jahrzehnten ein Programm, wie man es in der hiesigen TV-Landschaft noch immer mit der Lupe suchen muss. Ob Autoren-, Experimental- oder Kurzfilme - der Sender zeigte nicht nur gewagte Werke, sondern fungierte auch als erfolgreicher Koproduzent so manches modernen Klassikers, von "Goodbye Lenin" bis "Toni Erdmann". Zuletzt stieg der Kulturkanal auch in den Serien-Hype ein, lizensierte Perlen wie "In Therapie" und "Borgen", die im Jubiläumsmonat online ebenso abrufbar sind wie die neue Drama-Adventure-Serie "Wild Republic", die am Donnerstag, 26.5. (22 Uhr) Free-TV-Premiere feiert. Rekapituliert werden neben Klassikern wie "Lady Chatterley" (Sonntag, 29.5., 20.15 Uhr) und "Lola rennt" (Mittwoch, 1.6., 20.15 Uhr) auch Arthaus-Perlen wie "Leanders letzte Reise" (online ab 3. Juni) und Volker Schlöndorffs "Diplomatie" (online 27.5. bis 3.6.) - nur zwei von zahllosen TV-Erstausstrahlungen, an die ARTE sich im Gegensatz zu anderen Sendern traute.

Überhaupt, sich etwas trauen: Dafür stand ARTE, seit es 1993 Derek Jarmans ungewöhnliches Experiment "Blau" zeigte. Jener Sinn für Wagnis, Abseitiges und neue Blickwinkel brachte dem Sender schnell den Ruf des avantgardistischen Kulturkanals ein. TV-Unterhaltung, so das Klischee, war hier ausschließlich mit ästhetischem Anspruch und intellektuellem Gestus zu haben. ARTE - der Heimatsender eines etwas überheblichen Bildungsbürgermilieus: Genau jenes Bild war es wohl, das Helmut Kohl zum oft kolportierten Witz gegenüber Mitterand bewog: "François, wenn Sie nicht aufhören, mich zu ärgern, dann zwinge ich Sie, ein Wochenende lang ARTE zu schauen."

Ganz von der Hand zu weisen sind die Vorurteile nicht: Bereits vor dem Durchbruch der Streamingdienste und Mediatheken, von denen ARTE eine der ersten und ergiebigsten besitzt, galt der Satz "Wir schauen ja nur ARTE" als eine Art Vorform von "Wir haben ja gar keinen Fernseher mehr". Dass der bilaterale Sender tatsächlich eine hochkulturellaffine und ansonsten fernsehskeptische Zielgruppe anspricht, davon zeugen nicht nur Auszeichnungen wie die besondere Ehrung des Grimmepreises 2019, sondern auch die Statistiken: Zwar landet der Kanal regelmäßig auf dem ersten Platz von Beliebtheitsumfragen - doch pendelte sich der Marktanteil hierzulande nur um durchschnittliche ein Prozent ein (2021: 1,3 Prozent). Einkriegen ließ sich ARTE davon ebenso wenig wie vom zeitweiligen Teilzeitbetrieb mit dem Kinderkanal: Erst seit 2006 gibt es das Programm in Vollzeit. Und immerhin, die junge digitale Generation scheint für Nachwuchs zu sorgen: Für die Mediathek verzeichnete man zwischen 2019 und 2021 ein Reichweitenzuwachs von 68 Prozent.

Kanal für Kultur: 2019 wurde ARTE mit der besonderen Ehrung des Grimme-Preises ausgezeichnet. (Bild: ARTE)
Kanal für Kultur: 2019 wurde ARTE mit der besonderen Ehrung des Grimme-Preises ausgezeichnet. (Bild: ARTE)

ARTE blickt auf die Welt mit anderen Augen

Mehr als um gierig beäugte Prozentzahlen oder den glattgebügelten Programmpluralismus von ARD und ZDF geht es dem Quotensieger der Herzen ohnehin um Aufklärung - in kultureller, sozialer, ökonomischer, historischer und politischer Hinsicht. Ein Anspruch, der qualitativ wirkt: ARTE schuf Formate, die zum Besten gehören, was das europäische Fernsehen je hervorbrachte. Seien es wundervolle Kleinode wie das klassische Wissensmagazin "Xenius", die Geopolitiksendung "Mit offenen Karten", das nischenaffine Musikmagazin "Tracks" oder der charmante deutsch-französische Kulturvergleich "Karambolage", der in einer Spezialsendung zum 30-Jährigen die Gründung des Senders Revue passieren lässt (Sonntag, 22. und 29.5., jeweils um 18.55 Uhr). Auch außergewöhnliche Produktionen wie der animierte Dokumentarfilm "Flee" über einen Geflüchteten (Montag, 30.5., 20.15 Uhr) und die Doku-Reihe "Europa. Kontinent im Umbruch" Dienstag, 31.5., 20.15 Uhr) zeigen zum Jubiläum - und mit aktuellerem Bezug denn je - exemplarisch auf, was ARTE vom Rest abhebt.

ARTE blickt auf die Welt mit anderen Augen als jenen des Mainstreams: Emanzipationskämpfe, Subkultur, Ökologie, Feminismus und Kapitalismuskritik etwa sind hier keine Randerscheinungen, sondern gewichtiger Teil einer (in vielen Ländern der Welt unterdrückten) öffentlichen Debatte. Man mag daran durchaus manches kritikwürdig finden - beispielsweise den manchmal arg moralisierenden Blick des westlichen Wohlstandslinken, oder fragwürdige Entscheidungen wie jene vor einigen Jahren, eine Doku über "Antisemitismus in Europa" nicht auszustrahlen, um nicht noch "Öl ins Feuer" zu schütten.

Dennoch: Es braucht ARTE heute, angesichts von Krieg, nationalstaatlicher Abgrenzung und gesellschaftlicher Regression, mehr denn je. Als kritisches und moralisches Korrektiv einer politisch oft affirmativen Fernsehkultur. Als Medium der Aufklärung und Solidarität. Als Sender, der sendet, wie es anderen auf der Welt geht - und wie es anders gehen könnte. Aber auch als ästhetisch-geschmackliches Korrektiv einer von Naivität, Kommerz und Dummheit geprägten Werbe-Tratsch-Fremdscham-Hölle. Als Versuch, der kulturindustriellen Normalität mit Qualität, Anspruch und Bildung zu begegnen. Allesamt Eigenschaften, die heute, wie es scheint, immer weniger gefragt sind. Man kann in diesen Zeiten nur hoffen, dass es ARTE weiterhin viele Jahrzehnte geben wird.

Seit drei Jahrzehnten wird vom ARTE-Hauptsitz in Straßburg aus Fernsehen gemacht, das man sonst kaum findet. (Bild: ARTE /Frédéric Maigrot)
Seit drei Jahrzehnten wird vom ARTE-Hauptsitz in Straßburg aus Fernsehen gemacht, das man sonst kaum findet. (Bild: ARTE /Frédéric Maigrot)