Ein schlafender Riese erwacht

Ein schlafender Riese erwacht

Als der Abpfiff im Stadio Diego Armando Maradona ertönte, kannte Stefano Pioli nur ein Ziel: Der 58-Jährige rannte direkt zu seinen rot-schwarzen Fans.

Voller Glück und mit einer gewissen Genugtuung sagte der Milan-Coach wenige Minuten später: „Alle dachten, wir wären die Underdogs, aber wir haben ein großes Herz.“ Mit großem Herzen und auf leisen Sohlen hat sich der AC Mailand ins Halbfinale der Champions League geschlichen - das erste Mal nach langen 16 Jahren.

„O sole Milan!“, titelte Tuttosport am Tag nach dem überraschenden Coup in Neapel. Auch Pioli konnte es kaum fassen: „Wir erinnern uns noch sehr gut daran, wie unsere europäische Reise gegen Rio Ave begann.“ Rio Ave? Was hat der portugiesische Erstligist mit der wundersamen Wiederbelebung des in die Jahre gekommenen Großklubs zu tun?

24 Elfmeter: Europa-League-Drama rettet Milan

1. Oktober 2020: Nach einer erneut mäßigen Saison muss Milan in der Qualifikation für die Europa League zum Rio Ave FC reisen. Der Fußballzwerg bietet mächtig Widerstand, geht in der Verlängerung sogar in Führung. Nur weil sich Rio-Verteidiger Toni Borevkovic zu einem unnötigen Handspiel hinreißen lässt, kann Hakan Calhanoglu sein Team per Strafstoß ins Elfmeterschießen retten. Dort gewinnt Milan nach 24 Schüssen mit 9:8.

Auch wenn es danach in der Europa League nur bis ins Achtelfinale ging, war dieses Spiel an der portugiesischen Atlantikküste aus Sicht von Pioli die Initialzündung für Milan. Eineinhalb Jahre nach dem Drama von Rio Ave gewann Pioli seine erste Meisterschaft mit den Rossoneri.

Die glorreichen Zeiten, in denen der AC Mailand Stammgast im Halbfinale der Königsklasse war (2003 bis 2007), gehörten der Vergangenheit an. Umso erstaunlicher ist die aktuelle Erfolgswelle, auf der die Lombarden durch Europa surfen - und wie sie den Mythos Milan im Europapokal wiederbeleben.

Die zwei Gesichter des AC Milan

In der Liga zeigt die Formkurve nämlich bedrohlich nach unten. Dort ist das furiose Napoli 22 Punkte weit entfernt, die Pioli-Elf wartet (das Hinspiel gegen Neapel ausgenommen) seit Ende Februar auf einen Pflichtspielsieg.

Doch in den Highlight-Spielen auf europäischer Bühne liefert Milan dank eines klaren Matchplans ab: defensiv ein Bollwerk errichten und offensiv Nadelstiche setzen.

Mit diesem einfachen Prinzip kassierte Milan in den vier K.o.-Spielen gegen Neapel und Tottenham nur ein einziges Gegentor. 1:0, 0:0, 1:0 und 1:1 - Effizienz ist Trumpf im Spiel von Stefano Pioli. Der Trainer, der seit 2019 in der Modestadt arbeitet, bringt die gegnerischen Stürmer dabei mit kleinen taktischen Kniffen zur Verzweiflung.

Trainerfuchs Pioli lässt Neapel verzweifeln

Hatte der 57-Jährige gegen Harry Kane und Tottenham noch erfolgreich auf eine Dreier-Abwehr mit dem Ex-Schalker Malick Thiaw gesetzt, baute er gegen Napoli wieder auf die Meisterformation mit Viererkette. Was in der Liga vor zwei Wochen beim 4:0 in Neapel schon vorzüglich funktioniert hatte, trug auch in der Königsklasse Früchte.

Abwehr-Oldie Simon Kjaer und Fikayo Tomori schalteten Sturmstar Victor Osimhen am Dienstagabend mit Ausnahme seines Treffers zum 1:1 komplett aus. Pioli hatte seine Defensive dazu aufgefordert, sich bis in den eigenen Strafraum zurückzuziehen, wenn Napolis gefürchtete Offensive auf sie zurollt.

„In Anbetracht der Tatsache, dass Osimhen dabei war, haben wir uns entschieden, etwas tiefer zu stehen und ihm nicht die Räume zu geben, in denen er verheerend sein kann“, verriet Pioli.

Vor der Abwehr positionierte der Italiener mit Tonali, Krunic und Bennacer drei defensiv denkende Mittelfeldspieler, die die Räume für Kvaratskhelia und Co. zusätzlich verengten.

CL-Halbfinale zwischen Inter und Milan

Zur Wahrheit gehört in diesem Zusammenhang auch, dass Milan das Spielglück in Neapel hold war: In der ersten Hälfte entschied Schiedsrichter Marciniak trotz klarem Kontakt von Leao gegen Lozano auf Weiterspielen (38.). Außerdem scheiterte Kvaratskhelia vom Punkt an Milan-Keeper Mike Maignan (82.). Mit Blick auf beide Spiele war der Halbfinaleinzug schmeichelhaft.

Das dürfte Milan verständlicherweise völlig egal sein. Zumal im Halbfinale nun das Derby della Madonnina wartet: Stadtrivale Inter steht nach dem 2:0 und 3:3 gegen Benfica Lissabon ebenfalls unter den letzten Vier Europas und trifft am 9. oder 10. Mai auf Milan.

Die bisherigen beiden Duelle in der K.o.-Phase der Champions League gingen jeweils an den rot-schwarzen Mailänder Klub. Als „Underdog“ dürfte Milan nun nicht mehr durchgehen.