Ballack erklärt: Das ist Götze zum Verhängnis geworden

267 Bundesliga-Einsätze hat Michael Ballack vorzuweisen.

Klar, dass der 43-Jährige das Spielgeschehen auch seit dem Re-Start verfolgt - allerdings nicht mehr mit der gleichen Leidenschaft wie vor der Corona-Pause.

Im SPORT1-Interview analysiert der frühere Weltklasse-Fußballer die Brennpunkte der Bundesliga.

SPORT1: Herr Ballack, verfolgen Sie die Geisterspiele im TV?

Michael Ballack: Ja, aber manchmal ist es schon schwierig, das muss ich zugeben. Bei mir ist die Vorfreude auf die Spiele ohne Zuschauer nicht mehr so vorhanden wie früher. Dortmund gegen Bayern ist aber auch ohne äußere Einflüsse interessant zu verfolgen. Der Fußball ist ein Paket, zu welchem Fans, die Atmosphäre, zweifelhafte Schiedsrichterentscheidungen und auch die Emotionen der Spieler dazugehören. All das erleben wir derzeit nur noch reduziert, was dem Gesamtprodukt die Attraktivität nimmt. Geisterspiele sind keine Dauerlösung.

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SPORT1: Es gibt viele Auswärtssiege. Viele vermeintlich kleinere Klubs tun sich schwer seit dem Re-Start. Bayern dominiert alles. Wie bewerten Sie die Ausgänge der Spiele?

Ballack: Für mich war klar, dass die individuell stärker besetzten Mannschaften einen Vorteil haben werden, wenn es ohne Zuschauer weitergeht. Es ist jetzt leichter, bei einem Team wie Union Berlin zu gewinnen, weil dort eine heiße Kulisse fehlt. Dass die Bayern seit dem Re-Start noch dominanter spielen, ist keine Überraschung. Bei denen geht es nur darum, ob sie ihre Spannung und Motivation hochfahren können. Sie haben den stärksten Kader der Liga.

SPORT1: Vielen Spielern wird unterstellt, dass ihre Formkurven aufgrund der Geisterspiele nach oben gehen. Ist das vorstellbar?

Ballack: Ja, definitiv. Man merkt bei dem einen oder anderen Profi, dass Geisterspiele für ihn einen Trainingsspiel-Charakter haben. Der eine oder andere traut sich mehr zu, weil der Druck weniger ist, der sie oft gehemmt hat, wenn zehntausende Zuschauer da sind.

"Sehe Fortführung der Champions League skeptisch"

SPORT1: Haben Sie selbst Mitspieler erlebt, denen im Pflichtspiel die Beine geschlottert haben und im Training nicht?

Ballack: Natürlich. Viele junge Talente bekommen es nervlich nicht hin, ihre Leistung unter größerem Druck und Zuschauern abzurufen. Diese sogenannten Trainingsweltmeister gab es früher schon. Im Training haben sie gezaubert, aber wenn es am Wochenende hart auf hart kam, hat man sie nicht gesehen. Es gibt auch umgekehrte Typen. Ich will keine Beispiele nennen, aber die haben mal eine Trainingseinheit weggelassen oder hatten mal ein Wehwehchen, aber am Wochenende um 15.30 Uhr konnte man sich auf diese Typen hundertprozentig verlassen. Das wussten die Trainer, weswegen es keine Diskussionen gab und ein Auge zugedrückt wurde. Deswegen halte ich den Satz von einigen Trainern für fraglich, die sagen: "Ich behandle alle Spieler gleich." Das geht meiner Meinung nach überhaupt nicht, denn jeder Spieler muss im Rahmen eines Parameters anders behandelt werden, weil er anders tickt. Das ist die Kunst.

SPORT1: Lassen Sie uns über die Tabelle sprechen. Wird der FC Bayern zum achten Mal in Folge Deutscher Meister?

Ballack: Ja, ganz klar.

SPORT1: Trauen Sie dem FC Bayern das Triple zu?

Ballack: Glauben Sie wirklich dran, dass die Champions League fortgeführt wird?

SPORT1: Ja, Sie nicht?

Ballack: Ich sehe eine mögliche Fortführung skeptisch. Wenn ich so einen Wettbewerb im Turniermodus weiterführe, verändere ich das Regelwerk und habe eine andere Wettbewerbsform, obwohl die gleichen Mannschaften mitspielen. Die anderen Ligen sind derzeit noch nicht mal im Spielbetrieb. Eine WM, die ich auf das ganze Jahr ausweite, ist auch keine richtige WM. Aber ich weiß auch, dass man in Corona-Zeiten Abstriche machen muss, um den jeweiligen Wettbewerb aufrecht zu erhalten.

"Schalke fehlt Überzeugung in die eigene Stärke"

SPORT1: Wer schafft den Sprung in die Champions League?

Ballack: Ich hoffe natürlich die Leverkusener, aber in den letzten Jahren war deren mangelnde Konstanz oft ein Manko. Sie wirken derzeit aber sehr gefestigt, obwohl sie gegen Wolfsburg einen kleinen Ausrutscher erlebt haben. Die Gladbacher spielen seit Beginn der Saison solide und haben in der Breite einen sehr guten Kader. Marco Rose hat für Stabilität gesorgt. Zwischen diesen beiden Klubs wird es ein enges Rennen.

SPORT1: Können Sie den Negativlauf der Schalker erklären?

Ballack: Die Lage auf Schalke ist wirklich schwierig zu analysieren. Bei Schalke 04 fehlt vielleicht die Überzeugung in die eigene Stärke. Ihre aktuelle Schwächephase erinnert stark an den Verlauf unter Domenico Tedesco.

SPORT1: Schafft Werder Bremen nach dem 0:3 gegen Eintracht Frankfurt noch den Klassenerhalt?

Ballack: Bremen gehört mit dieser Kader-Qualität nicht auf diesen Tabellenplatz, aber man sieht bei ihnen, was fehlendes Selbstvertrauen und ein Negativlauf alles anrichten können. Bremen muss von Spiel zu Spiel ums Überleben kämpfen.

SPORT1: Zu den Brennpunkten der Liga zählt die Trainerdiskussion um Lucien Favre. Wie bewerten Sie diese Debatte?

Ballack: Die entscheidende Frage ist doch: Welcher Trainer kann beim BVB eine Mannschaft nicht nur weiterentwickeln, sondern auch aktuell mit tollem Fußball immer wieder emotionalisieren und diese Begeisterung im und um den Klub demonstrieren? Dort wird eine bestimmte Art von Fußball gespielt, der dem BVB eine Identität verleiht. Favre ist nun mal kein Trainer wie Jürgen Klopp. Thomas Tuchel schon eher. Er war ein expressiver Typ, der auch mal vor der Kamera Emotionen gezeigt hat. Favre ist ein sachlicher Fachmann, der sehr ruhig wirkt, und den man kaum aus der Reserve locken kann. Menschen tun sich schwer, so einen Trainertypen zu greifen. Deswegen ist es ganz besonders wichtig, dass ein Trainer wie Favre besonders gestützt wird. Er ist fachlich sehr gut, aber in der Außendarstellung ruhig. Intern weiß man das, also muss man in Dortmund immer wieder Einigkeit und Überzeugung demonstrieren.

"Spielstil der Neuzeit wird Götze zum Verhängnis"

SPORT1: Ist Favre der richtige Trainer für Borussia Dortmund?

Ballack: Nur die Verantwortlichen können beurteilen, ob ein Trainer passt oder nicht. Sie sind nah an der Mannschaft und spüren das. Umso wichtiger sind mündige Spieler mit Persönlichkeit, die sich nicht aus Angst vor Konsequenzen vor einem ehrlichen Feedback scheuen. Daher muss es mal erlaubt sein, wenn sich solche Spieler öffentlich zu Wort melden. Ob Favre nun der richtige Trainer ist oder nicht, lässt sich nicht nach drei gewonnenen oder verlorenen Spielen analysieren. Man sieht es ja an Florian Kohfeldt in Bremen. Viele haben ihn schon abgeschrieben und auf einmal holt er sieben Punkte aus drei Spielen. Ein Verhältnis zwischen Mannschaft und Trainer ist sehr komplex.

SPORT1: Ist die Trennung zwischen dem BVB und Mario Götze richtig?

Ballack: Götze ist ein fantastischer Fußballer und er war ganz sicher einer der Besten, die wir je in Deutschland hatten. Der Spielstil der Neuzeit ist ihm nun zum Verhängnis geworden. Dieses Pressen mit hohem Tempo, die vielen Sprints, dafür ist er nicht so prädestiniert. Götze ist ein Instinktfußballer, der auf dem Platz weiß, wo er hinlaufen und wo der Pass landen muss. Wenn ein Spieler wie er mit strikten Aufgaben in der Offensive und Defensive beauftragt wird, tut er sich schwer und verliert an Qualität. Er sollte sich einen Verein suchen, in dem die taktischen Zwänge nicht ganz so extrem sind. Er hat jetzt eine lange Leidenszeit hinter sich. Mit seinem wahnsinnigen fußballerischen Talent will er ganz sicher nicht auf der Bank sitzen.

"Havertz ist noch kein fertiger Spieler"

SPORT1: Sollte er ins Ausland wechseln?

Ballack: Wichtig ist, dass sein neuer Trainer von ihm überzeugt ist, seine Art von Fußball schätzt, und ihn spielen lässt. Ich wünsche ihm ein gutes Händchen bei der Vereinsauswahl.

SPORT1: Was ist Ihre Meinung zur Entwicklung von Kai Havertz?

Ballack: Ich halte ihn für ein großes Talent. Er hat überragende technische Fähigkeiten und spielt sehr frei. Für ihn wird es wichtig sein, immer in der Champions League zu spielen, um sich mit den Besten messen zu können. Deshalb wird es für Leverkusen von Bedeutung sein, den vierten Platz zu erreichen. Aber eines ist klar: Havertz ist noch kein fertiger Spieler.

SPORT1: Wie meinen Sie das genau?

Ballack: Das ist nicht negativ gemeint, aber ich sehe bei ihm in der Persönlichkeitsentwicklung und in der Körpersprache noch Steigerungspotenzial. Das ist aber völlig normal in seinem Alter. Als Kapitän muss er jetzt erst mal lernen, mit dieser Verantwortung umzugehen. Sein Spielstil war bisher immer sehr unbekümmert. Wenn er mal den Ball verloren hatte, durfte er auch mal stehenbleiben. Bei einem Topverein wird das alles schwieriger und nicht mehr so akzeptiert werden. Er muss und wird sich darüber bewusst sein, dass er in Leverkusen eine Ausnahmestellung hat. Er sollte sich jetzt fragen: Wie lange will ich diese haben? Wie lange genieße ich das? Oder nehme ich schon diesen Sommer die nächste Herausforderung mit noch größeren Anforderungen an mein Spiel an?

SPORT1: Sie sprachen Havertz' Persönlichkeitsentwicklung an. Wie erlangt er diese?

Ballack: Das kommt mit Spielen und Erfahrung, vor allem mit eigenem Anspruchsdenken. Es ist entscheidend, was Havertz von sich und seiner Mannschaft einfordert, und wohin sein eigener Weg führen soll. Für einen Wechsel muss er jedenfalls mental bereit sein.