Benachteiligung bis Bevorzugung: Wie Personaler Vorurteile im Recruiting überwinden können, laut einer Expertin

Tuba Vogel ist Chief People Officer beim HR-Tech Unternehmen Expertlead und erklärt, wie man als Personaler Vorurteile überkommen kann.
Tuba Vogel ist Chief People Officer beim HR-Tech Unternehmen Expertlead und erklärt, wie man als Personaler Vorurteile überkommen kann.

Voreingenommenheiten –  bewusst und unbewusst – schleichen sich auch heutzutage noch in den Recruitingprozess ein und erschweren eine neutrale Beurteilung der Bewerberinnen und Bewerber. So können schon leicht ausgeprägte Vorurteile, etwa aufgrund des Geschlechts, und die darauf beruhenden Fehlentscheidungen, größeren Unternehmen Kosten in Millionenhöhe verursachen.

Da das Recruiting die erste Schlüsselstelle ist, um für mehr Diversität im Unternehmen zu sorgen, können Biases hier fatale Folgen haben. Tuba Vogel ist Chief People Officer beim HR-Tech-Unternehmen Expertlead. Durch ihren Job bekommt sie tiefe Einblicke in die Recruitingprozesse verschiedener Unternehmen – und die versteckten Voreingenommenheiten. Vor ihrer Zeit bei Expertlead schloss sie ihr Studium an der Middlesex Business School London und University of Applied Sciences Aachen ab. Anschließend begann sie ihre Karriere im Personalwesen und geht seitdem ihrer Passion nach, internationale Tech-Start-ups zu skalieren, Prozesse aufzusetzen und insbesondere deren Unternehmenskultur & -werte zu formen.

Für Business Insider bringt sie die gängigsten Biases ans Licht und zeigt, wie Unternehmen diese aus dem Weg räumen können, um von der breiten Palette an Perspektiven und Ideen eines vielfältigen Teams profitieren zu können.

Wie äußern sich Biases bei der Einstellung?

Beim Recruiting wird zwischen sogenannten Conscious und Unconsious Hiring Biases unterschieden (auf Deutsch: bewusste und unbewusste Voreingenommenheit bei der Einstellung). Bei der bewussten Voreingenommenheit kennen die Interviewerinnen und Interviewer die eigenen Vorurteile, die zur Bevorzugung oder Ablehnung bestimmter Personen führen – und sie können diese in der Regel explizit benennen.

Dagegen schleicht sich die unbewusste Voreingenommenheit, wie der Name bereits vermuten lässt, unterbewusst in den Einstellungsprozess ein – das macht es wesentlich herausfordernder, sie zu erkennen. Sie entsteht dann, wenn Personalerinnen und Personaler „auf das Bauchgefühl vertrauen“ oder „der Intuition folgen“.

Oft liegen Unconsious Hiring Biases erlernte Stereotypen sowie persönliche Erfahrungen aus der Vergangenheit zugrunde. In beiden Fällen können Biases dazu führen, dass Kandidatinnen oder Kandidaten bevorzugt oder benachteiligt werden. Und Fehlentscheidungen entpuppen sich erst nach einiger Zeit als solche. Insbesondere in Branchen wie beispielsweise dem IT-Bereich, in dem es auf ein präzises Matchmaking von Talent und Stelle ankommt, steht und fällt ein erfolgreiches Recruiting mit der adäquaten Beurteilung der Fähigkeiten.

Einstellungssache: Gängige Biases im Recruiting

Erst wer die Voreingenommenheiten im Recruitingprozess erkennt, kann diese auch durch entsprechende Maßnahmen vermeiden. Was also sind die gängigsten Biases?

Oft wird die Personalauswahl vom ersten Eindruck der Kandidaten beeinflusst. Der Primacy-Effekt bewirkt, dass die erste Wahrnehmung der Person – egal ob positiv oder negativ – den späteren Gesamteindruck maßgeblich prägt und somit die Beurteilung verzerren kann. Zudem kann zu viel Selbstvertrauen sowohl bei einer Einzelperson als auch bei einem ganzen Team Auswirkungen auf den Einstellungsprozess haben. Das passiert vor allem dann, wenn Personalerinnen und Personaler, basierend auf vergangenen erfolgreichen Einstellungen, glauben, eine gewinnbringende Formel für Einstellungen gefunden zu haben. Was in der Vergangenheit gut funktioniert hat, muss allerdings nicht zwangsläufig auch in der Gegenwart noch erfolgreich sein.

Des Weiteren lassen sich Personaler leicht dazu verleiten, den Gesamteindruck der Bewerber von einem Aspekt abhängig zu machen – sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Der Halo-Effekt tritt auf, wenn ein Merkmal, das als besonders positiv wahrgenommen wird, andere wichtige Indikatoren für die Qualifikation überstrahlt – ähnlich wie ein Heiligenschein. So könnte zum Beispiel ein Abschluss an einer renommierten Universität den Gesamteindruck der Bewerber ins Positive verzerren.

Im Gegensatz kommt es beim Horn-Effekt dazu, dass ein Merkmal, das als negativ wahrgenommen wird, andere positive Aspekte überschattet und somit den Gesamteindruck ins Negative verzerrt. Hat ein Bewerber zum Beispiel ein Studium abgebrochen, kann dies dazu führen, dass sich Personalerinnen und Personaler trotz langjähriger Praxiserfahrung ein vorschnelles Urteil bilden.

Welche Konsequenzen entstehen für die Unternehmen?

Unternehmen, die sich im Einstellungsprozess von Voreingenommenheiten leiten lassen, verbauen sich damit die Chance für mehr Vielfalt. Ein diverses Team bringt eine breite Palette von Perspektiven und Ideen ein, wodurch mehr Innovation und ganzheitliche Entscheidungen resultieren. Dazu kommt, dass Talente ein vielfältiges Team und einen diversen Bewerbungsprozess zu schätzen wissen: Studien zeigen, dass IT-Expertinnen und -Experten Stellenangebote von Unternehmen, die sie als weniger inklusiv wahrnehmen, ablehnen oder sich sogar erst gar nicht bei diesen bewerben. Zudem erhöht sich das Risiko von Fehleinstellungen, wenn Unternehmen Einstellungsentscheidungen auf der Grundlage von Voreingenommenheit, einem Bauchgefühl oder einer subjektiven Liste von Kriterien treffen.

Aktivist Raul Krauthausen über Behinderte im Berufsleben.
Aktivist Raul Krauthausen über Behinderte im Berufsleben.

Was können Unternehmen gegen Vorurteile im Recruiting tun?

Inklusive Kommunikation

Unternehmen tun gut daran, ihre Stellenbeschreibungen auf mögliche geschlechts- oder ethnisch bedingte Vorurteile zu überprüfen, um die Vielfalt der Bewerber zu fördern. Stellenausschreibungen spielen eine bedeutende Rolle bei der Anwerbung von Talenten und können einen ersten Eindruck von der Unternehmenskultur vermitteln.

Sogar subtile Unterschiede in der Wortwahl können sich auf den Pool an Kandidaten auswirken. Studien haben gezeigt, dass eine männliche Sprache, einschließlich Begriffen wie „wettbewerbsorientiert“ und „zielstrebig“, Frauen das Gefühl vermittelt, nicht in das Arbeitsumfeld zu passen. Dagegen ziehen Wörter wie „kollaborativ“ und „kooperativ“ tendenziell mehr Frauen als Männer an.

Bewerbungsprozess auf Augenhöhe

Gerade im IT-Bereich sagt der Lebenslauf wenig über die tatsächliche Qualifikation der Kandidaten aus. Stattdessen lassen sich Personaler durch Voreingenommenheiten zu falschen Einschätzungen verleiten. Eine bessere Alternative, um die Fähigkeiten der Bewerber zu beurteilen, sind Peer-to-Peer-Interviews: Hier tauschen sich die Kandidaten in einem Gespräch auf Augenhöhe mit erfahrenen IT-Experten aus. Somit liegt der Fokus auf dem tatsächlichen Können und der Bewerbungsprozess wird weniger von subjektiven Verzerrungen gelenkt.

Teamwork makes the dream work

Sobald es die Kapazitäten erlauben, kann es helfen, den Bewerbungsprozess nicht in die Hände einer Person zu legen, sondern zwei oder mehr Personaler mit der Auswahl der richtigen Kandidaten zu betrauen. So können Voreingenommenheiten leichter aufgedeckt und mögliche Verzerrungen durch eine zweite Einschätzung verhindert werden.

Blindes Recruiting

Mehrere Untersuchungen zeigen, dass Frauen bei der Einstellung häufiger aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden. Eine weitere Methode zur Prävention etwaiger Vorurteile, die zum Beispiel zur Geschlechter-, Namens- oder Altersdiskriminierung führen, ist daher das blinde Recruiting. Dabei werden alle demografischen Informationen aus dem Lebenslauf manuell oder mithilfe einer speziellen Software entfernt, wie zum Beispiel Name, Geschlecht, Foto, Alter, Ausbildung und Erfahrung, um eine mögliche Diskriminierung zu vermeiden. In den USA ist das beispielsweise sehr üblich, sodass Bewerbungen, auf denen ein Foto abgebildet ist, teilweise sogar automatisch abgelehnt werden.

Bewusste oder unbewusste Biases im Recruiting, wie etwa der Halo- oder Horn-Effekt, haben negative Folgen, die durch eine inklusive Kommunikation oder blindes Recruiting deutlich reduziert werden können. Nur wer kontinuierlich daran arbeitet, Voreingenommenheiten aufzudecken und diese aus dem Weg zu schaffen, wird das Beste aus dem Recruiting herausholen können und somit schließlich Talente einstellen, die einen deutlichen Mehrwert für das Unternehmen beisteuern.