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Betrug, Verzweiflung, Tattoos - Leiden mit Leeds!

Lockdown bedeutet für mich doppelte Gefahr. Das viele Sportdoku-Gucken hat mich inzwischen zum Fan vieler Klubs, Teams und Sportler gemacht.

Ich weiß nicht, wie ich den Überblick behalten soll, wenn bald das volle Livesport-Programm wieder läuft. Wenn ich zusätzlich zu Bundesliga und Premier League, zu Serie A und La Liga und Oberliga Württemberg, wo mein Lieblingsklub Stuttgarter Kickers spielt, noch darauf achten muss, was all die Leute machen, deren Schicksal ich in der Corona-Pause verfolgt habe, und die mir dabei ans Herz gewachsen sind.

Die üblichen HSV-Niederlagen und Bayern-Siege und Erling-Haaland-Tore werden künftig nicht genug für mich sein, ich werde dann noch parallel checken müssen, wie Sunderland in der dritten englischen Liga gerade spielt, was das Formel-1-Haas-Team mit seinem verrückten Chef so treibt - und wie Leeds United vorankommt.

Ja genau, Leeds. Meine neueste Errungenschaft. Die Sportdoku "Take Us Home" auf Amazon Prime hat mich fast so mitgenommen wie die Netflix-Variante über Sunderland. Wir begleiten diesmal den englischen Zweitliga-Klub Leeds in der Saison 2018/19. Das Besondere daran auch wieder: mitbekommen, wie alle leiden. Die (meist tätowierten) Fans des Traditionsklubs, der seit 1992 nix mehr gewonnen hat, der Inhaber aus Italien (reich, aber völlig mit den Nerven runter) - und die Spieler, für die es um die Existenz geht.

Wenn ihr wissen wollt, wie durchgeknallt Marcelo Bielsa war ...

Und dann ist da noch Marcelo "El Loco" Bielsa.

Der Argentinier gilt nicht erst als Trainergott, seit ihn sogar Pep Guardiola als den besten seines Fachs bezeichnet hat.

Wenn ihr wissen wollt, wie durchgeknallt ("El Loco" bedeutet "Der Verrückte") der Typ wirklich ist: Ihr müsst nur die sechs Folgen gucken. Es ist die Saison des Spionagebetrug-Skandals (Bielsa ließ das Training des Gegners heimlich beobachten und reagierte grandios, nachdem er erwischt wurde), und wir erfahren alles über das berühmte "Eigen"-Tor, das Bielsa anordnete, weil Leeds einen seiner Meinung nach ungerechtfertigten Treffer erzielt hatte.

Das ist wirklich großer Sport, und aus dem Off spricht in der Originalversion obendrein die ganze Zeit Russell Crowe. Ja, der Gladiator.

"An Impossible Job" bei Englands Nationalteam

Wenn wir schon in England sind: Die Mutter der Fußballdokus ist eine echte Perle. Sie heißt "An Impossible Job". 1993/94 verfolgte ein Kamerateam den englischen Nationaltrainer Graham Taylor in der WM-Qualifikation. Diese Doku habe ich ehrlich gesagt nur auf YouTube gefunden. Sie ist sehr verpixelt, aber das passt, weil sie einen in die Urzeit des Fußballs zurückkatapultiert, als die Kommerzialisierung gerade erst so richtig loslegte. Man sollte gut englisch können, versteht aber auch so das wichtigste.

Wir sitzen mit Nationalspielern (z. B. dem tatsächlich ein Elektrolytgetränk zu sich nehmenden Paul Gascoigne) in knallengen Umkleidekabinen, gegen die sich heute sogar Schülermannschaften auflehnen würden, und wir sehen, wie Stars ihre Schuhe noch selbst in Plastiktüten stecken. Wir sind bei Pressekonferenzen dabei, die in einer twitterfreien Zeit stattfanden, als es also richtig krachen konnte und trotzdem noch gelacht wurde. Wir hören durchgehend das F-Wort.

Taylor öffnet sich auf eine nie dagewesene Art

Und dann ist da dieser Taylor, was für ein furztrockener Typ, der sich den Kameras auf nie dagewesene Art jederzeit öffnet. Er lässt uns morgens im Hotel beim Zähneputzen zugucken, und bei den WM-Qualifikationsspielen kriegen wir jeden Ton mit, den er auf der Bank sagt. Das ist so nah, als hätte jemand eine Kamera auf sein Knie geschraubt.

Einmal, als ein gegnerischer Spieler aufs englische Tor zuläuft, schreit er entsetzt: "DO I NOT LIKE THAT." Beim entscheidenden Spiel in Holland gibt der Schiri Ronald Koeman nach einer Notbremse kein Rot. Taylor dreht durch. Wir hören alles. Koeman schießt später das 2:0, und Taylor geht zum vierten Offiziellen, dem blutjungen Markus Merk, und ruft: "Sagen Sie Ihrem Kollegen nachher ruhig, dass er schuld ist, dass ich morgen gefeuert werde."

Taylor, der leider 2017 starb, gibt am Ende der 76-minütigen Doku seinem Nachfolger einen Tipp: Er müsse bloß sicherstellen, dass England nie verliert. Das hat, wie wir wissen, seither nicht geklappt.

Dank "All or Nothing" plötzlich Interesse an Football

Diese Doku ist entwaffnend ursprünglich, aber dann gibt es auch das Gegenteil: Kommerz pur, Brutalität ohne Ende, aber nicht minder spannend: die grandiose American-Football-Dokureihe "All or Nothing" auf Amazon Prime, wo jetzt die fünfte Staffel gestartet ist. Diesmal begleiten wir die Philadelphia Eagles, die 2017 den Titel gewonnen haben und sich jetzt, von Verletzungspech gebeutelt, durch die Saison schleppen.

"All Or Nothing" hat geschafft, was viele Super Bowls und dutzende Football-Reportagen nicht geschafft haben: dass ich mich plötzlich für diesen seltsamen Sport interessiere. Und sogar die Regeln verstehe. Also einigermaßen.

Wenn du verfolgst, wie die Spieler in der Kabine miteinander umgehen und ihre Rhetorik bewunderst, wenn du sie an Weihnachten in ihrem Zuhause besuchst; wenn du siehst, wie sie mit Anfeindungen der Fans umgehen oder wie der Trainer seine Team-Ansprachen hält, dann kannst du nicht anders als: sympathisieren. Und mal ehrlich: Wer wusste, dass das NFL-Pendant zur Feindschaft "Schalke 04/Borussia Dortmund" in den USA "Philadelphia Eagles/Dallas Cowboys" lautet? Ich wusste es nicht.

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Ganz nah dran an Akteuren und Trainern

Einmal, in der zweiten Staffel, sind wir bei "All Or Nothing" sogar dabei, als die Entlassung des Coaches der L.A. Rams der Mannschaft mitgeteilt wird. Manche Profis kämpfen in dem Moment mit den Tränen, andere daddeln auf dem Handy rum. Unfassbar eigentlich.

Und das Beste an allem: Wir hören ganz genau, was Akteure und Trainer während der Spiele sagen, schreien, stöhnen, weil sie Mikrofone am Körper tragen (in der Fußball-Bundesliga leider undenkbar). Ich muss bei "All Or Nothing" oft an meine Zeit bei Sport Bild denken. Unser Claim lautete damals: "Näher geht nicht." Näher geht leider doch.

Wie die Saison für die Eagles ausgegangen ist, will ich hier nicht spoilern. Nur so viel: Wenn so ein 110-Kilo-Koloss losheult, nimmt dich das mit - egal, wie viel er verdient.

"I don't get paid 20 million for nothing bro"

Apropos verdienen: In meiner liebsten Szene der neuen Staffel sagt Fletcher Cox, Defensiv-Spieler der Eagles, auf dem Feld einen Spielzug des Gegners voraus: einen "Screen", also eine Art Querpass des Quarterbacks.

Wir hören das, weil er ja ein Mikro trägt. Tatsächlich spielt der Gegner im nächsten Moment diesen Screen. Direkt nach dem Spielzug geht ein Gegenspieler an Fox vorbei und fragt ihn erstaunt, wie er das denn vorausgesehen habe.

Darauf sagt Fox: "I don't get paid 20 million for nothing, bro." (Ich verdiene nicht umsonst 20 Millionen, Bruder.)

Wo er recht hat, hat er recht.

PS: In der ARD-Mediathek und auf DAZN laufen gerade zwei Dokus zum 100-Jahr-Jubiläum des Sportmagazins kicker. Sie bieten sogar jenen ganz interessante Einblicke, die selbst Sportjournalisten sind, und natürlich auch allen anderen, die Fußball mögen. Besonders lustig sind vor allem die Geburtstagswünsche der Kollegen von der Konkurrenz an den kicker: Wer noch vergiftete Komplimente für die nächste Weihnachtsfeier in der Firma sucht, wird hier schnell fündig werden.

- "Leeds United - Take Us Home" – 2020, Amazon Prime
- "Graham Taylor - An Impossible Job", 1994
- "All Or Nothing - A Season with the Philadelphia Eagles " – 2020, Amazon Prime (frühere Staffeln: Arizona Cardinals/2016, L.A. Rams/2017, Dallas Cowboys/2018, Carolina Pathers/2019)
- "100 Jahre kicker: Ein Sportmagazin schreibt Geschichte" – 2020, ARD-Mediathek (noch bis 11.4.2021)
- "Die Institution - 100 Jahre kicker" – 2020, DAZN

Alex Steudel ist Sportjournalist und seit seiner Kindheit glühender Sportfan. Mitte März brach alles weg: Kein Livesport mehr weit und breit. Um den Entzug erträglich zu machen, stieg Steudel auf eine Ersatzdroge um: Dokumentationen oder Biografien – meistens, aber nicht immer handeln sie von Fußball. Es geht ihm inzwischen viel besser. Ach was, es geht ihm super: Er hat eine neue Welt entdeckt. In dieser Kolumne erzählt er davon.

Die bisherigen Kolumnen von Alex Steudel:

- Fremdgehen mit "Drive to Survive"

- Ich hab' euch bei Netflix weinen sehen!

- Gabriel Jesus' Tränen - ich bin gerettet!