Der bittere Absturz eines Überraschungsmeisters

Die Wände im King Power Stadium erinnern daran, wie weit Leicester City im vergangenen Jahrzehnt gekommen ist.

Es gibt große gerahmte Fotos von den glorreichen Momenten des letzten Jahrzehnts, die alle ähnlich aussehen: Die Mannschaft feiert, während ein Pokal in die Höhe gehalten wird und Feuerwerkskörper knallen.

Englischer Zweitliga-Meister 2014. Englischer Überraschungsmeister 2016, Champions-League-Teilnehmer 2016/17, FA-Cup-Triumph 2021 und Community-Shield-Sieger 2022.

Doch alle großen Ären müssen einmal zu Ende gehen - vor allem, wenn man nicht zur reichen, etablierten Elite der Premier League gehört.

Die Foxes haben zwei große Sorgen, die erste ist unmittelbar - ihr Status in der Premier League ist gefährdet, denn der Abstieg droht als Tabellenvierzehnter. Die zweite ist langfristig und könnte ein noch schwieriger Weg sein.

Großer Aderlass nach englischer Meisterschaft 2016

Im Laufe der Jahre gab es eine Reihe von englischen Mannschaften, die an die Tür der Top 6 klopften und sich eine Zeit lang in den oberen Rängen behaupten konnten: Blackburn, Stoke, Burnley, Southampton, Everton, West Ham, Wolverhampton - die Liste ist lang.

Einige haben mittlerweile ihren Premier-League-Status verloren, dümpeln in der 2. Liga herum, andere haben überlebt - und wieder andere klammern sich vergeblich an alte, erfolgreiche Zeiten.

Alle durchliefen diesen Zyklus, in dem sie durch gute Nachwuchsarbeit und clevere Transfers ein Team aufgebaut hatten, das es mit der elitären Konkurrenz aufnehmen konnte. Dann standen sie jedoch vor großen Entscheidungen, als Manchester City und United, Liverpool, Chelsea, Arsenal und Tottenham, um ihre Top-Talente oder Shooting Stars buhlten oder Vater Zeit ihre erfahrenen Spieler einholte.

Keinem gelang es, diese Herausforderungen zu meistern: Aus Leicesters Meisterelf ist nur der 36 Jahre alte Stürmer Jamie Vardy übrig geblieben. Keeper Kasper Schmeichel (Nizza) steht kurz vor dem Karriereende, während seine Viererkette um Christian Fuchs, Wes Morgan, Roberth Huth und Danny Simpson bereits im Ruhestand ist.

Abgeworben wurden nach dem Meistertitel 2016 auch wichtige Stützen wie N‘Golo Kanté, Danny Drinkwater (beide Chelsea) und Riyad Mahrez (ManCity) - und der Aderlass setzte sich munter fort: Immer wieder mussten die Foxes ihre Besten wie Harry Maguire (ManUnited), Ben Chilwell und Wesley Fofana (beide Chelsea) ziehen lassen.

Leicester-Coach sieht „große Kluft“ zu Top 6

Man kann sich vorstellen, dass sich dieser Kreislauf für Mannschaften wie Fulham (aktuell 6. Platz) Brighton (8.) und Brentford (9.), die derzeit so gut in der Premier League dastehen, irgendwann auch schließt.

Denn es gibt nur sieben Mannschaften, die sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren unter normalen Umständen keine Gedanken über den Abstiegskampf machen müssen: Neben den oben genannten Top 6 auch das neureiche Newcastle United - wegen derer Scheich-Millionen!

Leicester (24 Punkte) hat als Tabellenvierzehnter aktuell dagegen nur drei Zähler Vorsprung auf die Abstiegszone - wo Everton, Bournemouth (beide 21) und Southampton (18) gegen den Gang in die Championship kämpfen - und muss bis zum Saisonende entscheiden, ob es auf der Stelle treten und sich über Wasser halten will oder Geld in die Hand nimmt, um wieder nach oben zu kommen.

Unter Brendan Rodgers haben die Foxes in den vergangenen vier Jahren im King Power Stadium Arsenal, Chelsea, Manchester United, Liverpool und Tottenham Hotspur sowie auswärts Manchester City besiegen und auch immer wieder ärgern können.

Mittlerweile sind die Top 6 aber meilenweit entfernt. Exemplarisch war das jüngste Duell gegen die Gunners, als es einen gewaltigen Qualitäts- und Intensitätsunterschied zwischen dem Tabellenführer und Leicester gab, das nur einen einzigen Torschuss vorweisen konnte.

„Das war eine große Kluft“, gab Rodgers hinterher zu: „Das ist leider der Punkt, an dem wir aktuell stehen.“ Er fuhr fort: „Wir müssen nun bis zum Saisonende die nötigen Punkte holen - und dann im Sommer alles neu bewerten und planen.“

Abhängigkeit von Maddison - Tielemans auch vor Absprung

Einer der Gründe für die Krise der Foxes war das krankheitsbedingte Fehlen von James Maddison.

Doch Leicester wird offenbar lernen müssen, sich ohne den englischen Nationalspieler zurechtzufinden - nicht nur, weil er immer noch mit hartnäckigen Knieproblemen zu kämpfen hat, sondern auch, weil Maddisons Zukunft unweigerlich woanders liegen wird.

Der 26-Jährige ist der herausragende Spieler des Teams und mit neun Toren und fünf Assists in nur 19 Spielen der Top-Scorer seines Teams. Doch er allein konnte es bisher auch nicht richten. Die Foxes holten nur drei von 21 möglichen Punkten, wenn Maddison nicht gespielt hat.

Da sein aktueller Vertrag im Sommer noch ein Jahr läuft, wird es schwierig sein, den offensiven Mittelfeldspieler zu halten. Chelsea, ManCity und Newcastle zeigen bereits reges Interesse. Im Raum steht eine marktwerkgerechte Ablöse von 50 bis 60 Millionen Euro.

Neben Maddison wird noch ein weiterer Stammspieler und absoluter Leistungsträger das Weite suchen: Youri Tielemans will seinen auslaufenden Vertrag nicht verlängern und steht vor dem nächsten Karriereschritt.

Um den 26 Jahre alten belgischen Nationalspieler buhlen die englischen Top-6-Klubs, aber auch dem BVB, Juventus Turin und Newcastle wird Interesse nachgesagt.

Leicester droht Abstieg und großer Kaderumbruch

Der Umbruch kommt im Sommer so oder so, denn neben Tielemans laufen bei sechs weiteren Spielern die Verträge aus.

Eine große Herausforderung, vor allem angesichts der knappen finanziellen Mittel. Die Gunners haben einen ähnlichen Umbau unter Mikel Arteta hinter sich - nur ist Leicester nicht in der Lage, 300 Millionen Euro zu investieren, die Arsenals neu zusammengestellte Startelf gekostet hat.

Das große Problem für Vereine wie Leicester besteht darin, dass sie sich kaum Fehler auf dem Transfermarkt leisten können, weil sie nicht über die Mittel verfügen, um sie zu korrigieren. Im Gegensatz zu den englische Top 6.

„Wir sind finanziell nicht mehr in der Lage, in der wir waren, als ich hierher kam, und andere Klubs haben uns finanziell überholt, aber wir müssen immer noch clever sein und die richtigen Spieler rekrutieren“, gibt Rodgers zu verstehen.

Und gibt gleichzeitig Aufschluss über die Pläne der Foxes: „Man muss seinen Kader ständig verjüngen, und das hilft auch den Spielern, die jetzt hier sind, so wie bei Kiernan Dewsbury-Halls (24) und Harvey Barnes (25), all diesen Jungs; sie müssen sich noch sehr verbessern.“

Neuer Zyklus hat in Leicester bereits begonnen

Der neue Zyklus hat in Leicester bereits begonnen, denn mit Victor Kristianen (20), Luke Thomas, Kasey McAteer (beide 21), Harry Souttar, Wout Faes, Boubakary Soumaré und Patson Daka (alle 24), James Justin (25), Wilfred Ndidi und Kelechi Iheanacho (beide 26) steht die neue Generation der Foxes schon in den Startlöchern.

Doch ganz ohne Routiniers bzw. erfahrene Spieler wird es auch nicht gehen. Wichtige Entscheidungen stehen an: Einige Vertragsverlängerungen und Neuzugänge sowie der Klassenerhalt wären der Anfang.

Und wenn Leicester es richtig anstellt, könnten am Ende ein paar mehr Erinnerungen an den Wänden des King Power Stadiums hängen. Wenn sie es falsch machen, könnten dagegen harte Zeiten auf sie zukommen.