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Die brisanten Hintergründe von Tuchels Rauswurf

Der FC Chelsea hat durchaus überraschend Thomas Tuchel entlassen. SPORT1 geht auf Spurensuche und erklärt die Gründe für sein Aus als Blues-Coach.

Die Entlassung von Thomas Tuchel überrascht Fans und Experten.
Die Entlassung von Thomas Tuchel überrascht Fans und Experten. (Bild: REUTERS/Antonio Bronic)

Das Trainer-Aus von Thomas Tuchel beim FC Chelsea kommt einem Beben gleich. Nach der 0:1-Pleite in der Champions League bei Dinamo Zagreb und einem mäßigen Start in der Premier League hat die neue Klubführung um Besitzer Todd Boehly die Reißleine gezogen und den deutschen Coach vor die Tür gesetzt. Am Donnerstag wurde Graham Potter als Nachfolger verkündet.

Die durchaus überraschende Entlassung erschütterte nicht nur die Insel, sondern auch die (Medien)-Welt. Tuchel hatte Chelsea nach seiner Entlassung bei PSG erst im Januar 2021 übernommen und direkt zum Gewinn der Champions League geführt. Etwas mehr als ein Jahr später muss er jetzt schon wieder gehen. SPORT1 geht auf Spurensuche und erklärt die Hintergründe für sein Aus als Blues-Coach.

Tuchels sportliche Bilanz ist beeindruckend

Schaut man auf seine sportliche Bilanz, ist die Tuchel-Entlassung mehr als fraglich. Der Deutsche gewann 60 von 100 Spielen, fuhr 24 Remis ein und verlor mit Chelsea lediglich 16 Mal! Eine bessere Siegquote als Tuchel (60 Prozent) hatten seit 2009 nur Maurizio Sarri (63%) und Antonio Conte (66%) an der Stamford Bridge.

Und von den elf Blues-Trainern seit Carlo Ancelotti holten nur Roberto di Matteo (2,19), Conte (2,12) und Sarri (2,09) marginal mehr Punkte als Tuchel (2,07). Dafür aber gewann der 49-Jährige den heiß begehrten Henkelpott, den UEFA Supercup und die Klub-WM. Zudem erreichte er 2021 und 2022 das FA-Cup-Finale sowie 2022 das Finale des Carabao Cups.

Als Tuchel 2021 Chelsea übernahm, standen die Londoner auf Platz zehn, doch er führte sie noch auf den heiß umkämpften vierten Platz in der Premier League sowie zum Champions-League-Sieg. In seiner zweiten Saison stand auch ein guter dritter Rang in der Endabrechnung. Ganz nebenbei wurde Tuchel auch noch zum Welttrainer 2021 gekürt.

Der "Leuchtturm in der Brandung"

Trotzdem bekam der Ex-BVB-Coach nicht mehr die Zeit, die ihm hätte zustehen sollen. Das 0:1 bei Dinamo Zagreb ist zwar ärgerlich, kann aber nicht der ausschlaggebende Grund gewesen sein.

Denn in der vergangenen Saison startete Real Madrid ebenfalls holprig in die Königsklasse, blamierte sich gegen Sheriff Tiraspol im Bernabeu (1:2-Pleite) - aber Ancelotti durfte dennoch in Ruhe weiterarbeiten und führte die Königlichen schließlich zum Triumph.

Was man dem Deutschen jedoch vor allem hoch anrechnen muss, ist die Tatsache, dass Tuchel während der Sanktionen wegen Ex-Besitzer Roman Abramowitsch der "Leuchtturm in der Brandung" war. Chelsea durfte keine Transfers tätigen, keine neuen Spieler anwerben, keine Verträge verlängern und verlor deshalb wichtige Säulen wie Antonio Rüdiger und Andreas Christensen ablösefrei.

Er hielt die Mannschaft allerdings trotz dieser schwierigen Phase am Leben und bei Laune, verhinderte wohl dank zahlreicher Gespräche mit Spielern einen noch größeren Aderlass, wenn nicht sogar die totale Auflösung der CL-Sieger-Truppe, stand für die Ukraine ein und war das Gesicht von Chelsea. Alles vergangen und vergessen!

Erschwerend kam hinzu, dass die Blues erst spät auf dem Transfermarkt einsteigen durften, nachdem Boehly den Klub gekauft hatte. Und wieder war es Tuchel, der die Spieler von Chelsea überzeugen musste, von seiner Idee, Fußball zu spielen, von der Perspektive an der Stamford Bridge. Die acht Neuzugänge kamen wegen des Deutschen zu den Blues.

Chelsea-Boss schneidet alle alten Zöpfe aus Abramowitsch-Ära ab

Kein Wunder also, dass Graeme Souness in seiner Kolumne in der Daily Mail mit dem neuen Chelsea-Besitzer knallhart abrechnet und es auf den Punkt bringt: "Todd Boehly beschuldigt Thomas Tuchel, aber die Schuld liegt klar bei ihm... Die 300 Millionen Pfund teure Einkaufstour des amerikanischen Eigentümers war verrückt - und zudem versteht er unser Spiel (Fußball) gar nicht!"

Der neue starke Mann bei Chelsea: Besitzer Todd Boehly. (Bild: Action Images via Reuters/Peter Cziborra)
Der neue starke Mann bei Chelsea: Besitzer Todd Boehly. (Bild: Action Images via Reuters/Peter Cziborra)

Und weiter: "Boehly ist ein sehr wohlhabender Mann, der unternehmerisch tätig ist und sicher in vielen verschiedenen Bereichen Geld verdient hat. Ein Mann, der sich den Fußball angeschaut hat und dachte: 'Das ist ein Geschäft, das unkompliziert und einfach ist - und weil ich in so vielen anderen Aspekten des Lebens so klug bin, kann ich das auch schaffen'", so Souness. Mitnichten!

Nichtsdestotrotz scheint es, als wolle der amerikanische Chelsea-Boss alle alten Zöpfe aus der Abramowitsch-Ära abschneiden. Vor Tuchel mussten bereits Interimsboss Bruce Buck, Direktorin Marina Granovskaia, Team-Manager Petr Cech und Scott McLachlan, Chef der Scouting-Abteilung, sowie weitere Mitarbeiter gehen. Viel Fußball-Kompetenz ging dadurch verloren.

Dem Telegraph zufolge soll es zu einem Zerwürfnis zwischen Boehly und Tuchel gekommen sein, nachdem der 49-Jährige nicht Cristiano Ronaldo verpflichten wollte. Der US-Amerikaner allerdings wollte den Stürmer von Manchester United aus Marketing-Gründen unbedingt nach London holen.

Zudem soll die neue Klubführung von Tuchel gefordert haben, sich mehr um das Transfergeschäft zu kümmern. Das soll dem Blues-Coach aber gar nicht geschmeckt haben, denn er gestand jüngst, dass die Transferaktivitäten "verwirrend und ablenkend" waren, dass es teilweise "turbulent" war und dass er bisweilen eiskalt duschen musste, um sich zu beruhigen.

Tuchel verliert die Chelsea-Kabine

Dass Tuchel ein schwieriger Charakter ist, war nach seinem Abgang bei Borussia Dortmund allseits bekannt. Beim BVB zerstritt er sich mit Boss Hans-Joachim Watzke wegen des Umgangs mit dem Attentat auf die Mannschaft 2017. Kurz danach verabschiedete er sich als Pokalsieger aus der Bundesliga.

Nach einem Sabbatjahr wurde der 49-Jährige dann PSG-Coach, gewann sechs Titel in Frankreich, stand zudem mit dem Scheich-Klub im CL-Finale, und musste trotzdem nach zweieinhalb Jahren seinen Hut nehmen. Die ständigen Querelen mit Sportdirektor Leonardo waren zu viel des Guten.

Tuchel ist ein extrovertierter Coach und trägt das Herz auf der Zunge. Nach der 1:2-Pleite gegen Southampton kritisierte er seine eigenen Spieler öffentlich: "Wir können nach dem Spiel noch nicht alle Fragen beantworten, aber offensichtlich waren wir nicht zäh genug, um dieses Spiel zu gewinnen."

Auch nach der jüngsten Niederlage in der Königsklasse wurde er mehr als deutlich: "Es gibt viel zu analysieren", sagte der Chelsea-Coach: "Wir sind eindeutig nicht da, wo wir sein müssen und wo wir sein können. Es liegt also an mir, es liegt an uns, wir müssen Lösungen finden. Im Moment fehlt es an allem." Das klang stark nach einer Bankrotterklärung.

Laut dem Evening Standard soll die Stimmung in der Kabine schon vor Wochen gekippt sein. Zudem soll die notwendige Kommunikation und Begründung von sportlichen Entscheidungen gefehlt haben. Wurde Tuchel zu viel aufgebürdet?

Boehly installiert mit Potter seinen Coach bei den Blues

Diese Spannungen scheinen nicht mehr überwindbar gewesen zu sein. Zumindest nicht für Boehly. Der neue Klub-Boss hat nun in Graham Potter seinen Coach verpflichtet und zeigt damit allen, wer an der Stamford Bridge das Sagen hat.

Einige Fußball-Experten auf der Insel hielten bereits fest: "Du entlässt keinen Super-Trainer wie Tuchel, wenn man keinen anderen schon in der Hinterhand hat." Entsprechend dauerte es nicht lang, bis der Nachfolger gefunden wurde. Der Coach von Brighton Hove and Albion wechselt für teures Geld zu den Blauen. So schnelllebig ist das Fußball-Geschäft nun mal. Und Tuchel wieder passé.

Im Video: Einigkeit beim Fantalk: Tuchel-Entlassung hat mit Fußball nichts zu tun