Eine Bundesliga-Legende zwischen Tod und Toren

Anfang Februar war Dieter Müller mal wieder in Bordeaux gewesen.

Sein ehemaliger Mitspieler Marius Tresor, früher Kapitän und legendärer Libero der französischen Nationalmannschaft, feierte mit 70 Jahren seinen Abschied in die Rente und hatte eingeladen. Alle kamen: Patrick Battiston, Alain Giresse, Jean Tigana, Raymond Domenech, Bernard Lacombe oder Gernot Rohr. Alles Ikonen des französischen Fußballs.

Zusammen hatten sie 1984 und 1985 für Girondins Bordeaux die französische Meisterschaft gewonnen und damit eine in der 110-jährigen Vereinsgeschichte nie wieder gesehene Glanzzeit erlebt. Dieter Müller hatte mit seinen 60 Toren in 115 Spielen großen Anteil daran und noch heute wird der gebürtige Offenbacher an der Gironde dafür verehrt.

Es war eine besondere Zeit für Müller, sportlich wie privat, denn in Frankreich erlebte er mit seiner Frau Henny und dem damals einjährigen Sohn Alexander die schönste gemeinsame Zeit als Familie. Wer konnte damals ahnen, dass Alexander einige Jahre später an einem Gehirntumor sterben sollte?

Dieter Müller: Ein Leben voller Schicksalsschläge

Das Leben Müllers bestand immer aus Extremen. Die Schicksalsschläge, die der Stürmer zu überwinden hatte, lassen einen fassungslos zurück. Den Menschen Müller haben sie geprägt, den Fußballer angespornt.

Seinen leiblichen Vater lernte Müller erst mit 42 Jahren kennen, da erfuhr er, dass dieser Berufsfußballer bei Eintracht Frankfurt gewesen war. Seine Mutter gab ihn zur Geburt zu den Großeltern, wo er in ärmlichen Verhältnissen in Offenbach groß wurde. Als er mit seiner Mutter wieder in einer Familie lebte, verstarb der sehr vermögende und geliebte Stiefvater kurz nachdem er dessen Nachname, Müller, angenommen hatte.

Müllers Sohn Alexander tötete im Alter von 16 Jahren ein Gehirntumor, die geliebte Schwester fiel dem Alkoholismus zum Opfer. Zu guter Letzt stand 2012 sein Herz infolge eines Infarkts 31 Minuten lang still und Müller überlebte wie durch ein Wunder.

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Müllers Aufstieg beim 1. FC Köln

All diese Ereignisse haben Müller zu einem nachdenklichen, sensiblen und tiefgründigen Menschen geformt. Nur auf dem Platz, wenn er das Trikot mit der Nummer 9 überstreifte, war von all dem nichts zu sehen.

Als Fußballer hatte er großes Talent, zeigte sich vor allem vor dem Tor zielstrebig, schnörkellos und durchsetzungsfähig. Wie anders ist es zu erklären, dass er 1973 als 19-jähriger Nobody mit gerade mal zwei Teileinsätzen in der Bundesliga für Kickers Offenbach zu einem Starensemble wie dem des 1. FC Köln kam und sich sofort durchsetzte?

Wolfgang Overath, Jupp Kapellmann, Heinz Flohe, Hannes Löhr, Bernd Cullmann, Wolfgang Weber, Harald Schumacher, Herbert Neumann, Harald Konopka – sie alle hatten von dem Offenbacher Eigengewächs noch nie gehört. Und doch wurde Müller vom ersten Spiel an ein unverzichtbarer Faktor im Kölner Gefüge.

Acht Jahre lang war er für die Trainer in Köln wie Tschik Cajkovski, Hennes Weisweiler oder Rinus Michels eine Erfolgsgarantie.

Ein Mann der (Tor-) Rekorde

So wie auch in Bordeaux prägte Müller mit seinen Toren die erfolgreichste Zeit des Traditionsklubs: Pokalsieg 1977 mit seinem Siegtor im Finale gegen Hertha BSC, das Double 1978, Halbfinaleinzug im Europapokal der Landesmeister 1979.

Der Angreifer war beidfüßig, verfügte über ein spektakuläres Kopfballspiel, vor allem aber hatte er einen Torriecher, wie er nur selten zu finden ist. 193 Tore in 292 Pflichtspielen für die Kölner belegen das.

Bis heute sind seine sechs Tore in einem Spiel gegen Bremen Bundesliga-Rekord, 14 Pokaltore in einer Saison schoss keiner mehr, für seine ersten 100 Bundesligatore brauchte er nur 129 Spiele – bis heute ist das unerreicht.

Der Held von Belgrad

Auch für die Nationalmannschaft sorgt er als Debütant für einen Rekord. Man muss sich das vorstellen: 1976 nominiert Bundestrainer Helmut Schön den damals 22-jährigen Müller für die EM in Jugoslawien, ohne dass der Kölner zuvor ein Länderspiel absolviert hätte.

Im Halbfinale in Belgrad im Hexenkessel des "Marakana", wie das Stadion von Roter Stern im Volksmund genannt wird, steht es gegen die Gastgeber kurz vor Schluss 1:2. 90 000 einheimische Fans machen einen infernalischen Krach, feiern schon den Finaleinzug. Co-Trainer Jupp Derwall drängt Schön zur Einwechslung des unerfahrenen Müller. Schließlich kommt Müller auf den Platz und köpft mit der ersten Ballberührung den Ausgleich!

Es folgt die Verlängerung, in der Müller zwei weitere Tore erzielt und Deutschland quasi im Alleingang ins Finale schießt. Dort verliert Deutschland trotz eines Tores von Müller mit 1:2 gegen die damalige CSSR. Doch Dieter Müller wird EM-Torschützenkönig und ist von einem auf den anderen Tag in der ganzen Welt bekannt.

Dass er im DFB-Dress insgesamt nur auf 12 Einsätze kommt und lediglich noch bei der WM in Argentinien dabei ist, hat auch mit seiner Formkrise in der Saison 1978/79 nach dem gewonnenen Double mit dem 1.FC Köln zu tun. Der Bundesligatorschützenkönig von 1977 und 1978 durchlebt seine einzige längere Formkrise und der neue Bundestrainer Derwall startet mit Stürmern wie Karl-Heinz Rummenigge, Klaus Fischer und Horst Hrubesch durch.

Seine Torquote kann sich allerdings auch für den DFB sehen: Neun Tore in 12 Spielen. Es gibt schlechtere Bilanzen und dennoch sind es wahrscheinlich die fehlenden Länderspiele, die ihn in den Hintergrund rücken lassen, wenn es darum geht, die besten Stürmer zu benennen, die dieses Land je hervorgebracht hat.

Müller lässt Maradona abblitzen

In Köln erkaltete Anfang der 80-er-Jahre die Liebe der Fans zu ihrem Goalgetter. Rinus Michels, der Müller sehr schätzte und mochte, legte ihm nahe, mit 27 Jahren eine neue Herausforderung zu suchen.

Müller ging nach Stuttgart, wo er mit den Förster-Brüdern, Hansi Müller, Karl Allgöwer und Hermann Ohlicher nur eine mittelmäßige Saison spielte. Es folgte die Glanzzeit in Frankreich. Seine Karriere beendete er allerdings da, wo alles begann: in Offenbach, wo er den Klub 1987 nochmals in die 2. Liga schoss.

Legendär ist bis heute sein Abschiedsspiel im Juni 1989, als auf dem Bieberer Berg eine Weltauswahl gegen die Nationalmannschaft spielte und der Hessische Rundfunk live übertrug. Diego Maradona hatte ursprünglich auch da sein sollen. Doch bei den Verhandlungen in Neapel und Stuttgart (am Tag vor dem UEFA-Cup-Finale gegen den VfB) forderte der Argentinier von Müller einen Porsche, weshalb das Gastspiel nicht zustande kam.

"Man sollte immer versuchen, Dankbarkeit zu empfinden"

In den letzten Jahren förderte der ehemalige Weltklasse-Stürmer Kinder und Jugendliche in seiner Fußballschule. Auch eine Art, mit dem Verlust des eigenen Kindes umzugehen.

"Annehmen und loslassen", schreibt Müller in seiner Autobiographie, "das musste man lernen". Er sagt auch: "Egal, was einem im Leben wiederfährt, man sollte immer versuchen, Dankbarkeit zu empfinden."

Eine Haltung, die aus dem Munde Müllers besonders eindrücklich klingt.

Und egal, wo Müller hinkommt: Ob in Bordeaux, Köln oder Offenbach, wo er zwölf Jahre Präsident war. Überall wird der Ex-Stürmer mit offenen Armen empfangen. Und das ist mehr wert als das eine oder andere Tor.

Mounir Zitouni - Autor dieses Textes - arbeitet als Business-Coach für Veränderung, Entwicklung und Persönlichkeit (www.mounir-zitouni.de). Als Ex-Profifußballer (unter anderem Kickers Offenbach und Eintracht Frankfurt) und ehemaliger Sportjournalist (kicker Sportmagazin) weiß er genau um die Anforderungen und den Druck in einem spannungsgeladenen und leistungsausgerichteten Umfeld.