Calmund exklusiv: Hector ein Held, Kimmich mit Defiziten

Calmund exklusiv: Hector ein Held, Kimmich mit Defiziten

Jetzt spricht Calli: In seine Kolumne bei Yahoo Sport analysiert Reiner Calmund den Sieg gegen Italien. Neben Lob für Löws Taktik hagelt es auch Kritik.

Von Reiner Calmund

In Saarbrücken geboren, in Auersmacher bei einem Oberligisten fußballerisch ausgebildet - das war Jonas Hectors Karriere, bevor er 2010 zum 1. FC Köln kam. In der Domstadt wollte er studieren und sich bei den Amateuren des FC ein paar Euro nebenbei verdienen. Es kam völlig anders.

Gegen Italien setzte dieser stille, intelligente und bescheidene Junge die Zeichen und brachte die Nation zum Jubeln: Zunächst die Vorbereitung zum 1:0 durch Mesut Özil, dann die Entscheidung mit dem 18. Elfmeter in diesem epischen Drama vom Punkt. Jonas Hector, der völlig andere Profi, hat sich am Samstag gegen den ewigen Angstgegner Italien unsterblich gemacht. Und das Saarland - fußballerisch leider nicht verwöhnt in den vergangenen Jahrzehnten - darf besonders laut jubeln. Er tut das nicht, Hector ist einer der Stillen im Lande, einer, dem das Milliardengeschäft Fußball mitunter etwas suspekt scheint.

Überragende Defensive

Aber gejubelt hat ohnehin ganz Deutschland. Über einen verdienten Sieg, der zum großen Teil auf Jogi Löws Mist gewachsen ist. Ich akzeptiere die Meinung einiger Experten, dass sich Deutschland als Weltmeister taktisch zu oft nach einem starken Gegner richtet. Das Ergebnis und vor allem der Spielverlauf haben jedoch gezeigt, dass die Umstellung auf die Dreierkette exakt das richtige Mittel war, um die Italiener in Schach zu halten und sie - wenn auch erst im Elfmeterschießen - zum ersten Mal in einem Pflichtspiel zu bezwingen. Wir erinnern uns an die erste Halbzeit der Squadra Azzurri gegen Spanien, als Antonio Contes Jungs eine Chance nach der anderen hatten, immer nach dem gleichen Strickmuster: Die Abwehr dicht, lange Bälle auf Pelle, der meist auf Eder und Co. und wieder zurück. Diesen Automatismen musste Löw begegnen. Und das klappte, indem er das defensive Zentrum verdichtete. Drei Innenverteidiger als Block gegen die Italiener, das war das richtige Rezept, zumal dieser Block auch dann sicher stand, wenn die Italiener über die Außen kamen. Tatsache ist: Italien hatte zwei Torchancen in 120 Minuten. Das spricht für eine überragende Defensivarbeit. Am Samstag offenbarten sich übrigens die Defizite, die Joshua Kimmich defensiv noch hat. Es gibt nichts, was nicht zu verbessern wäre.

Jerome Boateng besitzt mein ganzes Mitgefühl. Mit seiner Aktion, die zum Handelfmeter führte, wollte er ein Foul verhindern und wurde Opfer einer alten Volks-Weisheit: "Das Gegenteil von gut gemeint ist gut gemacht." Der Elfer war völlig berechtigt. Doch Boateng kann beruhigt sein: Er machte diesen Patzer im Verlauf des Turniers dutzendfach wieder gut. Ein toller Fußballer.

Auch Island wäre unangenehm

Nach dem erfolgreichen Elfmeter-Krimi standen selbst mir ein paar Tränen in den Augen. 120 Spielminuten und 18 Elfmeter bis zur Entscheidung - da spielen auch bei einem alten Fußball-Haudegen die Nerven Klavier. Daher habe ich auch Verständnis, dass selbst so erfahrene Nationalspieler wie Thomas Müller, Mesut Özil und Sebastian Schweinsteiger im Kollektiv versiebten. Wenn absolute Weltklasse-Torhüter wie Gianluigi Buffon oder Manuel Neuer in der Kiste stehen, wird nach 120 Minuten und diesem Rucksack voller Verantwortung auf dem Buckel das Tor ganz, ganz klein.

Heute Abend wird die deutsche Delegation in Evian an den Bildschirmen hocken und den Halbfinalgegner beobachten. Ich tippe mal ganz konventionell auf Frankreich, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass die Isländer ihren Höhenflug gegen die starken Gastgeber fortsetzen können. Wobei: Auch sie wären ein unangenehmer Gegner.

Wenn wir von Frankreich ausgehen, wird Löw wieder auf Viererkette umstellen. Der gesperrte Hummels dürfte durch Höwedes ersetzt werden, der seine Sache am Samstag sehr gut machte. Er und Boateng passen zu Olivier Giroud, der vorne im Zentrum die Bälle verarbeiten, festmachen oder weiterleiten soll. Payet ist links ein passender Typ für Kimmich, in den kann er sich verbeißen, das gilt für Hector und Griezman auf der anderen Seite ebenso. Wer Jogi Löw gut kennt, der weiß, dass er als Alternative für die Abwehr auch über den defensivstarken Mustafi nachdenken wird.

 Langsam muss Müller liefern

Gegen die Außenverteidiger Evra und Sagna würde ich die Attacken über die Flügel forcieren, die beiden sind die Schwachstelle im französischen Abwehrverbund. Schwerstarbeit kommt auf das Mittelfeld zu, mit Kanté, Matiudi und Pogba können die Gastgeber richtig Dampf machen.

Es wird ein spannendes Halbfinale, egal, wie unser Gegner heißt. Löws Team ist noch zwei Schritte vom Titel entfernt. Und immer noch ist Luft nach oben. Ich will kein Wasser in den Bordeaux-Wein kippen, doch Thomas Müller und Mesut Özil konnten gegen Italien zwar schön kontrollieren - aber effektiv explodiert ist bis auf Özil beim Tor keiner von ihnen. Da muss mehr kommen, es ist nicht alles Pech, was nicht klappt. Mein Lieblingsspieler Thomas Müller ist mitunter nicht wiederzuerkennen, ich hoffe, er hat sich Fortune und Konzentration für das Halbfinale aufgehoben. Langsam wird es Zeit.