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Calmund exklusiv: Kimmich war überragend, aber...

Von Reiner Calmund

Reiner Calmund schreibt exklusiv als Kolumnist für Yahoo Sport Deutschland!

Das 7:1 gegen Brasilien im Halbfinale der WM 2014 gilt als eines der größten Spiele, das je eine deutsche Nationalmannschaft abgeliefert hat, völlig zurecht. Der Zauber diese Partie bestand vor allen Dingen darin, dass Klose, Khedira und Kroos binnen kürzester Zeit ein Tor nach dem anderen erzielten und jeder der schon einmal Fußball gespielt hat, der weiß: Das gelingt dir äußerst selten.

Im Internet kursiert ein Fake-Video, in dem die deutsche Elf jede dieser Großchancen knapp vergibt, der Torwart pariert, Latte und Pfosten retten für die Brasilianer oder die Kugel rauscht knapp vorbei. Am Ende siegt Brasilien 1:0. Ein Horrorfilm. Weil: So unrealistisch ist das ja nicht.

Deutschland gegen Nordirland? Zeitweise fast perfekt!
Blödsinn? Nein, das Team von Joachim Löw lieferte den Beweis dafür am Dienstag gegen Nordirland. Klar überlegen, sicher in der Abwehr und voller Druck nach vorne. Zeitweise ein fast perfektes Spiel, dass du auch gegen solch einen Gegner erstmal abliefern musst. Die Innenverteidiger standen sicher, Kroos holte sich die Bälle reihenweise und verlagerte das Spiel geschickt, die Außenverteidiger marschierten, flankten und passten und das Offensivquartett mit dem langen Gomez als Zielspieler wirbelte die Nordiren durcheinander, dass denen Hören und Sehen verging. Es stimmten die Lauf- und die Passwege, die Spielfreude und die Verteilung: Özil und Götze kamen über die Halbpositionen, Müller wirbelte um Gomez herum – das konnte sich sehen lassen. Am Ende standen 16:2 Torschüsse und keine klare Chance für die Nordiren.

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Der gesamte Spielplan der EURO2016

Zwei Personalien standen vor der Partie im Mittelpunkt und mit beiden lag Löw richtig. Nach der völlig berechtigten Kritik am Offensivspiel der Mannschaft reagierte der Bundestrainer. Nicht als beleidigte Leberwurst, die nicht in der Lage ist, einmal getroffene Entscheidungen zu korrigieren. Sondern als verantwortungsvoller Trainer, der sich nicht nur Gedanken macht, sondern auch Konsequenzen zieht. Und deshalb stand Mario Gomez in der Startelf. Doch nicht – wie häufig gefordert – für Mario Götze, sondern mit ihm. Julian Draxler musste auf die Bank, eine nachvollziehbare Entscheidung.

Was Müller an Chancen vergab, geht auf keine Kuhhaut
Gomez erzielte nicht nur den entscheidenden Treffer. Er machte dank seiner Präsenz auch die Mitspieler stärker. Er band zwei Gegenspieler, wühlte nimmermüde im Strafraum und schuf so Platz für Thomas Müller, der gestern zum Torschützenkönig hätte werden können. Was er an Chancen vergab, geht auf keine Kuhhaut. Trotzdem ist Thomas Müller ein Gewinner dieser Partie. Zunächst hat er mir mit seiner Selbstkritik vor dem letzten Gruppenspiel gefallen und auf seiner Leistung gegen Nordirland kann er in der KO-Runde aufbauen. Das 1:0 erstklassig vorbereitet, dann noch Pfosten und Latte getroffen, Müller ist wieder da! Er braucht nur noch etwas Glück.

Aber egal: Die Offensive konnte sich rehabilitieren, auch wenn Jogi Löw nach der Partie maulte, als habe man ihm für den Rest des Turniers den Espresso versteckt. Klar, ihm fehlten die Tore. Und da sind wir wieder am Anfang: Es hätte am Dienstag ein Festival wie gegen Brasilien geben können. Die Nordiren taten mir teilweise leid, so hoffnungslos liefen sie hinterher. Ich bin sicher: Wäre das 2:0 gefallen, hätten die tapferen Jungs von der Insel ein Debakel erlebt. So aber bleibt die Erkenntnis: Das gelingt nicht immer und das ist auch gut so. Mir war es im Halbfinale der Weltmeisterschaft lieber als gestern im Gruppenspiel der Europameisterschaft. Und: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

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Keine Angst: Die Kolumne ist nicht natürlich nicht zu Ende, bevor ich ein paar Worte über Joshua Kimmich verliere...

Der Bundestrainer hatte sich mit seiner zweiten Änderung für den jungen Bayern-Profi als Rechtsverteidiger entschieden, weil er sich von ihm mehr Druck nach vorne versprach als von Benedikt Höwedes. Er bewies gutes Gespür mit diesem Wechsel, was übrigens auch Höwedes in einem bemerkenswert fairen Kommentar nach dem Spiel so bestätigte: „Das war die richtige Entscheidung vom Trainer. Jo hat das sehr gut gemacht.“ Eine tolle Geste des Weltmeisters, der in der Schlussphase  den angeschlagenen Boateng sicher vertrat.

Und Kimmich? Der hat es in der Tat gut gemacht, suchte immer den Weg nach vorne, flankte, wenn er flanken musste, passte, wenn Kombinationen angebrachter waren. Er leitete Chancen ein und war sich für keinen Meter zu schade. Allerdings: Er wurde in der Defensive nicht gefordert. Was immerhin auffiel: Er war immer da, wenn die Nordiren kamen. Aber sie kamen eben nie wirklich gefährlich nach vorne. Man muss sehen, was der Junge gegen stärkere Gegner bringt. Offensiv hat er auf jeden Fall überzeugt.

Fazit nach der Vorrunde: Mit 3:0 Toren und sieben Punkten ist Deutschland ins Achtelfinale eingezogen. Das zeigt schon: Nach vorne fehlte  - abgesehen vom letzten Spiel - der große Glanz, nach hinten aber stimmt so gut wie alles. Der dynamische Boateng, der stellungssichere Hummels, dahinter der souveräne Neuer - dieser Dreierblock ist aktuell das Beste, was es in der Welt gibt. Wenn das jetzt noch mit den Toren klappt, ist mir um den Rest der EURO nicht bange.