Calmund rechnet mit zahnlosen Wölfen ab

Reiner Calmund schreibt exklusiv als Kolumnist für Yahoo Sport Deutschland!

 

Patsch, patsch, patsch – drei Mal Ronaldo und raus bist Du. Mensch VfL Wolfsburg, das war viel zu wenig. Meint unser Experte Reiner Calmund.

Es ist wie bei einem dieser völlig unnötigen Auffahrunfälle: Du siehst es kommen, kannst es aber nicht mehr verhindern. Weil du eben eine Sekunde gepennt hast. So wird sich der VfL Wolfsburg am Dienstag in Madrid gefühlt haben. Ein Crash nach 16 Minuten, der nächste nach 17 – patsch, vorbei ist es mit dem Ausflug durch Europa. Kompliment für das Viertelfinale – dass es zu mehr nicht langte, habt Ihr Euch jedoch auch selbst zuzuschreiben, liebe „Wölfe“. Besser gesagt: Viel zu liebe Wölfe. Sie präsentierten sich in den ersten 20 Minuten ängstlich, ließen sich überrennen, das waren zahnlose Wölfe im Schafspelz, von mir aus auch ängstliche Schafe im Wolfspelz – auf jeden Fall langte es vorne und hinten nicht.

1:0 Cristiano Ronaldo, 2:0 Cristiano Ronaldo, 3:0 Cristiano Ronaldo – der Junge ist nicht mein Fall, aber er setzt Maßstäbe. Bei dem hast du das Gefühl, die Halbzeitpause dauert 30 Minuten, damit er seine Locken nochmal frisch föhnen kann – aber wenn er auf dem Platz steht, dann wird nur noch einer rasiert: der Gegner.

Es fehlten die Mittel

Der VfL zeigte zu viel Respekt vor dieser Klasse. Verloren wurde das Spiel in der Anfangsphase. Da ließen sich die Wolfsburger zu weit hinten rein drücken, konnten die Real-Abwehr nicht beschäftigen, auf den Seiten kamen immer wieder Carvajal von rechts und Marcelo von links – es war klar, dass der Druck und Stress irgendwann zu groß werden würde und zwangsläufig Tore fallen mussten.

Aber ich kann der Wolfsburger Truppe gar keinen großen Vorwurf machen. Bei aller Umständlichkeit - bis zur letzten Minute konnte man sich beispielsweise nicht darauf einigen, die Kugel hoch und weit in den Strafraum des Gegners zu nageln und mit allen hinterher zu gehen - hielt der VfL gut dagegen, kämpfte und rackerte, fand aber nicht die Mittel, die Real-Abwehr so unter Druck zu setzen, dass sie Fehler beging. Da fehlte mir die allerletzte Überzeugung, anders als im Hinspiel, als die Wolfsburger besser umschalteten und Reals Tor häufiger in Bedrängnis bringen konnte.

Real dennoch kein Titelfavorit

Ein Treppenwitz der Transfergeschichte spielte auch eine Rolle an diesem Dienstag: Im Parallelspiel in Manchester war es – ausgerechnet – Kevin De Bruyne, der City ins Halbfinale schoss. Jener De Bruyne, der Wolfsburg in der vergangenen Saison auf Platz zwei und zum Pokalsieg geführt hatte. Für Manchester City hat sich die enorme Ablöse von über 70 Millionen Euro rentiert – der Sieg über Paris St. Germain katapultiert das zukünftige Team von Pep Guardiola in die heiß ersehnte Runde der letzten Vier. Der Bayern-Trainer kann in Lissabon folgen und steht dann irgendwie ganz seltsam zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Hier die Bayern, dort Manchester und dann natürlich noch der FC Barcelona, den ich gegen Atletico Madrid trotz des knappen Hinspiel-Ergebnisses als Favorit sehe. Eine Wahnsinnskonstellation.

 



Mein alter Freund Klaus Allofs und Trainer Dieter Hecking müssen sich nicht grämen. Die Wolfsburger haben sieben von zehn Champions League-Spielen gewonnen, die Runde der letzten Acht war das Höchste der Gefühle, ein Weiterkommen wäre eine ähnliche Sensation gewesen wie 2002 der Finaleinzug von Bayer Leverkusen. Und Real? Trotz des einzigartigen Ronaldo und eines starken Taktgebers Toni Kroos sind die „Königlichen“ für mich kein Top-Favorit. Dazu wackeln die Außenverteidiger defensiv zu sehr, dazu ist die Mittelfeldzentrale hinter Kroos zu löchrig und sowohl Benzema als auch Bale überzeugten mich auch am Dienstag nicht. Deshalb bleibt es dabei: Meine Top-Favoriten heißen München (wenn Boateng fit wird) und Barcelona. Ich hoffe, die Bayern kommen in Lissabon weiter und  treffen erst im Finale auf Barcelona, wenn es dann in Mailand heißt: „Pep gegen Pep – wer holt den Henkelpott?“