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Cannes 2023: Bekommt Jonathan Glazer mit Auschwitz-Drama "The Zone of Interest" die Goldene Palme?

Cannes 2023: Bekommt Jonathan Glazer mit Auschwitz-Drama "The Zone of Interest" die Goldene Palme?

Die Filmfestspiele von Cannes neigen sich dem Ende zu, an diesem Samstagabend werden die Preise verliehen.

Es war ein beeindruckender Jahrgang mit wenigen bis gar keinen "Buhrufen", während den Vorführungen, wie das beim anspruchsvollen Publikum in Cannes durchaus passieren kann.

Aber in diesem Jahr gab es vor allem: viel Applaus. Die 21 Filme im Wettbewerb waren nahezu durchweg starke Kandidaten mit ein oder zwei kleinen Enttäuschungen. "Asteroid City" von Wes Anderson zum Beispiel hat unsere Kulturreporter David Mouriquand & Frédéric Ponsard nicht überzeugt.

Wer also wird die Goldene Palme bekommen - und welche anderen Filme werden von Ruben Östlund und seiner Jury geehrt?

Hier ist unsere Prognose!

1. Goldene Palme

Eindeutiger Favorit für unsere beiden Kinokenner ist "The Zone of Interest" von Jonathan Glazer.

Darin spielt Sandra Hüller die Frau des KZ-Kommandanten Rudolf Höß namens Hedwig. Der Film, der auf einem Roman des kürzlich gestorbenen Autors Martin Amis basiert, fokussiert sich auf das häusliche Leben von Höß und seiner Familie, die direkt am KZ Auschwitz ein luxuriöses Haus bewohnten.

Von Auschwitz sehen die Zuschauer nur die Außenmauern oder einen rauchenden Schornstein. Schreie sind zu hören, während Hedwig ihren stattlichen Garten abschreitet oder dem Baby Blumen zeigt. Das Grauen wird durch den starken Kontrast zum Leben der Familie Höß deutlich.

Ganz gleich ob Palme oder nicht, "The Zone of Interest" werde wegen seines besonderen erzählerischen Zugangs als einer der wichtigsten Filme über den Holocaust in die Geschichte eingehen, meint Fred Ponsard. Unterlegt mit einer zeitgenössischen Musik, die wie der Film selbst die dunklen Sehnsüchte der Menschheit aufgreift und zum Klingen bringe. Ein Meisterwerk.

David Mouriquand ist ebenso beeindruckt und lobt, wie es Glazer gelingt, keine der Gräueltaten im Todeslager gleich nebenan direkt darzustellen, sondern das Grauen an den Rändern der Wahrnehmung ansiedelt und damit Fähigkeit des Menschen, die haarsträubende Realität auszublenden auf erschütternde Weise aufzeigt.

Es sei zudem Glazers erster Beitrag im Wettbewerb - keine schlechte Voraussetzung für eine wichtige Auszeichnung in Cannes.

2. Grand Prix

Auch hier herrscht Einigkeit: "Fallen Leaves" von Aki Kaurismäki hat das Zeug dazu.

Der finnische Filmemacher habe das Festival geradezu erobert und die schönsten Momente des Humors und der Liebe des Jahrgangs 2023 geliefert, meint Fred Ponsard.

Aus diesem Holz seien Kaurismäkis Helden geschnitzt: schräge, einsame Figuren - in diesem Fall ein alkoholkranker Fabrikarbeiter, eine Kassiererin und ein adoptierter Hund (der natürlich Chaplin heißt), ein kapitalistisches System, das sich nicht um das Wohlergehen des Einzelnen kümmert, aber vor allem die Liebe, die all diese Dinge überwinden kann.

Als Filmemacher des Klassenkampfes, des Antiimperialismus und des Glücks für alle vergisst Kaurismäki - von der finnischen Grenze zu Russland aus gesehen - nicht den Einmarsch in der Ukraine, der den ganzen Film über im Radio läuft.

Von kleinen menschlichen Nöten bis zu den großen Tragödien des Krieges vergisst der große Humanist niemanden, am wenigsten seine Zuschauer:innen, die das Kino mit einem warmen Gefühl im Herzen verlassen...

David Mouriquand kann auch hier nur zustimmen. Für das vierte Kapitel seiner "Arbeiterklassen-Trilogie" (nach "Schatten im Paradies", "Ariel" und "Das Mädchen aus der Streichholzfabrik") hat der finnische Meister der Schlichtheit eine Romanze geschaffen, die uns daran erinnert, dass Beziehungen kostbar sind und dass warmer Trost in einer Welt möglich ist, die oft so kalt erscheint.

"Fallen Leaves" sei der einzige Film in diesem Jahr gewesen, der tosenden Beifall erhielt, noch bevor der Abspann einsetzte. Er wäre das wärmere "Yin" zum dunkleren "Yang" von "The Zone of Interest".

3. Prix du Jury

Fred Ponsard räumt "Youth (Spring)" von Wang Bing die größten Chancen ein. Der mehr als dreieinhalb Stunden dauernde Dokumentarfilm mag manche abschrecken, werde aber einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Indem er den Alltag ausgebeuteter Jugendlicher in der Textilindustrie zeigt, zeichnet Wang Bing das Porträt einer ganzen, desillusionierten Generation, die ihrer Jugend beraubt wird.

Auf jeden Fall dürfte dieser Film die Zuschauer:innen dazu veranlassen, einen anderen Blick auf Kleidungsstücke made in China zu werfen. Oder zumindest auf das Etikett zu schauen. "Youth" sei ein inhärent politischer Film und Wang Bing ist ein Widerstandskämpfer, ein Zeuge der Realität in ihrem rohen Zustand, meint Fred Ponsard.

David Mouriquand ist unentschlossen und tendiert eher für "La Chimera" von Alice Rohrwacherüber einen Grabräuber, dessen Suche nach Artefakten untrennbar mit dem Wunsch mach Läuterung verbunden ist und der sich nach seiner verlorenen Liebe sehnt.

Wenn auch nicht vollends überzeugt, der nicht ganz abgerundete Film habe eine unbestreitbare Kraft - und ein wirklich brillantes Ende. Alice Rohrwacher gehört zu den Cannes-Lieblingen ("The Wonders", "Happy as Lazzaro"), ein Preis sei also drin.

Ebenso für Jessica Hausners düstere Komödie "Club Zero", deren ironische Schnörkel und bizarrer Tonfall Jury-Präsident Östlund wahrscheinlich gefallen dürften.

In einer idealen Welt würde Wim Wenders' "Perfect Days" den Preis bekommen, meint David Mouriquand - aber wenn es hart auf hart kommt, setze er auf "La Chimera".

4. Prix de la mise en scene (Beste Regie)

Fred empfiehlt die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania und ihren Film "Four daughters", sein "Coup de Coeur" in diesem Jahr und heimlicher Palme-Pavorit.

Eine Art unbekanntes Filmobjekt, das Fiktion und Realität vermischt, das geschriebene Wort und Improvisation, Schauspieler und real existierende Menschen.

Kaouther Ben Hania erzählt die Geschichte von Olfa, einer Mutter, die mit ansehen musste, wie sich zwei ihrer Töchter nach der Jasminrevolution, die 2011 den tunesischen Präsidenten Ben Ali stürzte, dem Islamischen Staat anschlossen.

Man hat den Eindruck, dass der Film vor den Augen des Zuschauers entsteht und dank der von der Filmemacherin geschaffenen Kulisse, die Worte und Gedanken der Protagonistinnen befreit. Frauen unter sich - die sich dem Blick einer anderen Frau hingeben, um sowohl das Intime als auch das Universelle zu berühren.

David Mouriquand hält "Four Daughters" ebenfalls für ein atemberaubendes Werk, und da es in Cannes üblich ist, dem Film, der die Goldene Palme gewinnt, keine weiteren Preise zu verleihen, wäre Kaouther Ben Hania dieses Jahr eine gute Wahl für die Beste Regie.

5. Prix d’interprétation feminine (Beste Schauspielerin)

Für Fred Ponsard glasklar eindeutig Sandra Hüller und zwar in "Anatomy of a Fall", ihrem zweiten Wettweberbsfilm neben "The Zone of Interest".

Wie könnte Sandra Hüller dieses Jahr nicht den Preis für die beste Schauspielerin gewinnen? In dem Drama von Justine Triet ist sie das Tor zum Leben eines Paares, das während seines Prozesses seziert werden soll. Wie eine Zwiebel legt sie im Laufe der Entwicklung ihres Charakters Schichten frei.

Ihre Darstellung ist wahrhaftig, ohne einen falschen Ton, und sie passt zu der komplexen Geschichte der französischen Regisseurin. Die deutsche Schauspielerin, die die meiste Zeit des Films Englisch spricht, verleiht ihrer Rolle als mächtige und zugleich machtlose Frau echte Tiefe und Komplexität.

David Mouriquand hält nach reiflicher Überlegung Léa Drucker in "Last Summer" für die beste Darstellerin.

In dieser Kategorie gebe es viele Möglichkeiten. Sowohl Natalie Portman als auch Julianne Moore waren in "May December" von Todd Haynes exzellent, Mia Wasikowska in dem sehr zwiespältigen "Club Zero" erschreckend. Aber der sichere Favorit sei Sandra Hüller, sowohl in "Anatomy of a Fall" als auch in "The Zone of Interest".

Wenn man bedenkt, dass sie den Preis für "Toni Erdmann" verpasst hat und wie brillant sie sowohl in Triets als auch in Glazers Filmen ist, stehen die Chancen gut, dass es dies Jahr klappt.

David setzt dennoch auf Léa Drucker in Catherine Breillats "Last Summer". Sie sei perfekt in der Rolle der erfolgreichen Anwältin, die ihrer Vertigo-Theorie erliegt und alles riskiert, indem sie sich auf eine unerlaubte Affäre mit dem 17-jährigen Sohn ihres Mannes aus einer früheren Ehe einlässt.

Sie oszilliert überzeugend zwischen den verschiedenen Facetten der Figur, ohne dabei in Parodie oder leicht definierbare Bösewicht/Opfer-Schemata zu verfallen. Hüller wird den Preis bekommen, aber Drucker habe definitiv eine Chance.

6. Prix d'interprétation masculine (Bester Darsteller)

Hier herrscht wieder Einigkeit: Koji Yakusho in Wim Wenders "Perfect Days". Er spreche nicht mehr als ein halbes Dutzend Sätze in dem Film, meint Fred Ponsard.

Und doch gelingt es ihm, alle Emotionen seiner Figur zu vermitteln, die alles andere als konventionell ist: ein Toilettenreiniger, der sich im Laufe des Film als literarisch gebildeter, naturverbundener, weiser und freiheitsliebender Mann entpuppt.

Koji Yakusho, ein in Japan längst etablierter Schauspieler, offenbart hinter seiner teilnahmslosen Fassade eine ganze Palette von Ausdrucksformen und Gefühlen.

Man fühlt den ganzen Film über mit ihm mit, und er bringt uns dazu, seine Figur zu lieben und zu respektieren. Es sei ein Vergnügen, ihn zu Japans schönen öffentlichen Toiletten zubegleiten, zu Tanzlokalen, öffentlichen Bädern, seinem bescheidenen Zuhause und natürlich zu seinem Lieferwagen mit tausenden Kassetten...

David Mouriquand meint, es gab in diesem Jahr nicht viele naheliegende Kandidaten... bis Koji Yakusho für Wim Wenders' "Perfect Days" auftauchte.

Der gesamte Film über einen alternden Toilettenreiniger in Tokio ruhe auf seinen Schultern, und was er mit nur einer Handvoll Zeilen anstelle, sei eine Meisterklasse der Subtilität.

Ein Film, der einem das Herz bricht, es wieder zusammensetzt. Dazu eine ergreifende Charakterstudie mit Lou Reed, Patti Smith und Nina Simone unterlegt. Er habe bei diesem Film geweint wie ein verlorenes Kind, "Perfect Days" sei ohne Zweifel einer der Höhepunkte dieses Festivals.

Der Preis für den besten Schauspieler könnte auch an Jude Law für seine Rolle als paranoider Heinrich VIII. in "Firebrand" gehen - eine naheliegende Wahl, um einen bekannten Namen auszuzeichnen. Aber sollte Yakusho ihn nicht bekommt, gehe er auf die Barrikaden, verspricht David Mouriquand.

7. Prix du scénario (Bestes Drehbuch)

Fred Ponsard tippt auf "Monster" von Hirokazu Kore-eda, der 2018 die Goldene Parlme für "Shoplifters – Familienbande" bekam.

Der japanische Meister könnte auch für diesen Film, der die Grenzen und Wahrnehmungen der Realität rund um das Thema Mobbing in der Schule verwischt, belohnt werden.

Der Streifen zeigt ein und dasselbe Ereignis aus dem Blickwinkel verschiedener Figuren und ändert dabei die Perspektive radikal. Das Prinzip sei teuflisch effizient. Besonders, um den Zuschauer in die Köpfe der Kinder zu versetzen, deren Fantasie auf der Leinwand oft schwer darstellbar ist.

David Mouriquand tippt auf "Anatomy of a Fall" von Justine Triet. "Monster" habe ihm auch gefallen. Aber der Film von Justine Triet sein an der Croisette unglaublich gut angekommen. Über die Leistung von Sandra Hüller herrsche Einigkeit.

Was ihn jedoch am meisten an dem Film beeindruckt hat, in dem eine Schriftstellerin gezwungen zur Hauptverdächtigen am Mord ihres Mannes wird, ist die Tatsache, dass der Film es schafft, viele konventionelle Züge des klassischen Gerichtsdramas aufzugreifen und trotzdem spannend zu bleiben.

Besonders hervorzuheben sind die Rückblenden, in denen die Auseinandersetzungen zwischen dem Paar gezeigt werden, die wahrhaftig klingen und nie in leichte Theatralik verfallen.

Insgesamt ist "Anatomy of a Fall" eine selbstbewusste Erzählung, zugänglich und knifflig zugleich. Dieser Film werde nicht mit leeren Händen nach Hause gehen, ganz gleich, in welcher Kategorie er am Ende ausgezeichnet werde.