"Die FIFA ist ein hoffnungsloser Fall": Ex-Profi Benjamin Adrion über seine WM-Doku

Benjamin Adrion war selbst Jugendnationalspieler, Profi beim VfB Stuttgart und FC St. Pauli. Jetzt hat er für ProSieben eine Reportage über die WM in Katar gedreht und spricht im Interview über seine Sicht auf die Weltmeisterschaft, das Gastgeberland und warum er keine Hoffnung für die FIFA hat.

Ex-Profi Benjamin Adrion besuchte für seine Reportage die FIFA-Zentrale und reiste selbst nach Katar. (Bild: ProSieben)
Ex-Profi Benjamin Adrion besuchte für seine Reportage "Das Milliardenspiel. Die verkaufte WM" die FIFA-Zentrale und reiste selbst nach Katar. (Bild: ProSieben)

Nach der aktiven Fußball-Karriere gründete Adrion die NGO "Viva con Agua", die sich weltweit für sauberes Trinkwasser einsetzt. Mit "ProSieben" drehte er jetzt die Katar-Doku: "Das Milliardenspiel. Die verkaufte WM". Dafür sprach er unter anderem mit der FIFA-Whistleblowerin Bonita Mersiades, DFB-Coach Hansi Flick, Weltmeister Philipp Lahm und reiste nach Katar, um sich selbst ein Bild zu machen. Im Interview mit Yahoo spricht der 41-Jährige, der mit seiner Familie in Südafrika lebt, über düstere Aussichten bei der FIFA, seinen eigenen Zugang als Ex-Profi zum WM-Thema und den europäischen Blick auf Katar.

Yahoo: Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie die Reportage gemacht haben?

Benjamin Adrion: ProSieben hat mich angesprochen, weil die Redaktion gerne wollte, dass ein Fußballer die Doku begleitet. Redakteur Jakob Wasshuber hatte mit vier, fünf verschiedenen Nationalspielern gesprochen, doch das kam nicht zustande. Dann sind sie irgendwann bei mir gelandet. Ich hatte auch kein Problem damit, mich mit der FIFA anzulegen und die Verbindung zu "Viva con Agua" ist ebenfalls gegeben. Auf den Baustellen sind Menschen wegen Dehydrierung gestorben, es geht um Menschenrechte und um Fußball als transformative Kraft, was auch bei "Viva con Agua" wichtig ist. Und mir liegt der Fußball natürlich auch am Herzen.

Hatten Sie das Gefühl, als ehemaliger Spieler einen anderen Zugang zum Thema zu haben, als "normale" Sportjournalisten?

Ich glaube schon, dass ich einen anderen Zugang hatte, dazu auch ein paar Kontakte zu Interviewpartner*innen, die über mich gekommen sind, ob Hansi Flick, Phillip Lahm oder St. Pauli-Präsident Oke Göttlich. Es hilft bestimmt, ein bisschen 'Stallgeruch' zu haben und zumindest die Spieler-Perspektive auch einordnen zu können. Gleichzeitig war es eine journalistische Herausforderung, gemeinsam mit Jakob Wasshuber diese Recherche zu machen. Das war für mich das erste Mal und hat mir sehr viel Spaß gemacht.

Ich denke, es ist erfrischend anders, wenn jemand aus dem Geschäft kommt und Interviews führt, in denen eine vertraute Atmosphäre herrscht. So war das, glaube ich, eine glückliche Konstellation.

Für die ProSieben-Doku interviewte Adrion unter anderem den australischen WM-Spieler Jackson Irvine vom FC St. Pauli. (Bild: ProSieben)
Für die ProSieben-Doku interviewte Adrion unter anderem den australischen WM-Spieler Jackson Irvine vom FC St. Pauli. (Bild: ProSieben)

Wie offen konnten DFB-Vertreter wie Philipp Lahm und Hansi Flick sprechen?

Philipp Lahm hat sehr offen und frei geredet, weil er kein direkter DFB-Vertreter sondern Vertreter der EM '24 ist. Bei Hansi Flick war es klar, dass es ein bisschen sensibler ist. Die Doku erschien ja jetzt kurz vor der WM. Auch ich wollte darauf Rücksicht nehmen. Es ging mir nicht darum, Hansi Flick in die Pfanne zu hauen. Im Gegenteil, ich wollte ihm die Möglichkeit geben, die Perspektive und auch die Vorfreude der Mannschaft zu zeigen. Und es sollte in der Doku um Fußball selbst gehen. Gleichzeitig hat er sich trotzdem auch klar geäußert und positioniert, insofern war das ein guter Weg.

Wie haben Sie Ihren Besuch in Katar persönlich erlebt?

Es war unglaublich heiß. Klar, dass man im Sommer dort keine WM spielen kann. Das wurde uns bei 40 Grad sehr schnell deutlich Da war niemand auf der Straße zu sehen. Ich konnte feststellen, dass sich die Menschen dort sehr auf die WM freuen. Besonders die jungen Menschen sind stolz, zum ersten Mal eine Weltmeisterschaft in Katar und im arabischen Raum zu haben. Wir haben so auch die katarische Perspektive der Menschen mitbekommen, die sich teilweise ungerecht behandelt fühlen und sich dagegen verteidigen wollen. Die beschreiben zum Beispiel Fortschritte, die ihnen zufolge international nicht richtig wahrgenommen werden.

Gab es etwas, was Sie selbst noch geschockt hat bei der Recherche?

Geschockt hat mich die Situation der FIFA. Da gibt es wenig zu beschönigen, was die Vergangenheit angeht. Zur Vergabe 2010 gibt es ja genügend Gerichtsurteile und Berichte. Gleichzeitig sehe ich auch für die Zukunft keine positiven Aussichten. Da gibt es Aussagen von internen Jurist*innen, dass Gianni Infantino es genauso wie Blatter macht, nur doppelt so schnell. Interne Governance Empfehlungen wurden einfach nicht übernommen. Dieses Bild ist schon schockierend und gibt für die Zukunft wenig Hoffnung. 2030 hat sich ja China für die WM beworben. Man darf also gespannt sein, was Vergaben von Weltmeisterschaften zukünftig angeht.

Kann man bei der WM zwischen FIFA und Katar differenzieren?

In Katar gibt es zumindest Anlässe, bei denen man als Europäer*in sensibel sein sollte. Ich will Katar nicht in Schutz nehmen, aber Kritik sollte auf Fakten basieren. Denn zum Teil gibt es starke Interessen von Nachbarländern wie Saudi Arabien, die angeblich Millionen in Anti-Katar-Kampagnen und Propaganda investiert haben.

In Bezug auf Menschenrechte sollte man Katar mit den direkten Nachbarn, Iran und Saudi-Arabien vergleichen. Plötzlich sieht Katar im Vergleich im Bezug auf Menschenrechte eher wie ein Zugpferd in der Region aus. Das Kafala-System ist offiziell abgeschafft worden, auch wenn man natürlich sagen kann, das sei nur pro-forma und gehe nicht schnell genug. Es aber überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Fortschritte existieren, ist auch nicht richtig. Man sollte da zweimal hingucken. Gerade als Europäer*in sollte man aufpassen, dass man Kulturen nicht pauschal verurteilt, ohne jemals vor Ort gewesen zu sein.

Was meinen Sie, können Fußball-Fans machen, um Druck auf die FIFA auszuüben?

Öffentlichkeit ist ein Mittel. "Boykott Qatar" ist ein Ansatz. Aber das bisschen Boykottieren in Deutschland wird nicht dabei helfen, dass die Einschaltquoten runtergehen. Weltweit gibt es immer mehr Fernsehanschlüsse. Ich gehe davon aus, dass es in Katar wie in Russland wieder einen Quoten-Rekord gibt. Warum redet niemand über die Sponsoren, diese sollten boykottieren. Wir können das höchstens über unseren Konsum machen. Die FIFA ist ein hoffnungsloser Fall. Dass die 211 FIFA-Mitgliedsstaaten einen anderen Standard wählen, der uns in Bezug auf Korruption und Menschenrechte passt, ist nicht absehbar.

Ist die Katar-Kritik eigentlich ein "Bubble-Thema"?

Das ist es auf jeden Fall. In Katar sagen sie ganz deutlich, dass Kritik nur aus Deutschland und England kommt und alle anderen Ländern entspannt sind. Ich lebe selbst in Kapstadt und begleite hier den Aufbau von "Viva con Agua" und der "Villa Viva", unserem Gasthaus auf afrikanischem Boden, das Brunnen baut. Hier im Land wird höchstens am Rand erwähnt, dass es Kritik an der WM gibt. In Deutschland ist die schon lauter, als sonst irgendwo auf der Welt. Und ich bin selbst innerhalb von Deutschland gespannt, ob die Einschaltquoten am Ende trotz aller Boykott-Rufe nicht doch wieder sehr hoch sind.

Aus Spieler-Sicht: Finden Sie, die Nationalspieler sollten Stellung beziehen oder ist es legitim, sich aufs Spielen zu konzentrieren?

Ich bin der Meinung, Spieler sollten ihre Plattform nutzen, sich positionieren und an die Grenzen dessen gehen, was möglich ist, um Öffentlichkeit zu schaffen. Das kann Dinge verändern und die Spieler haben einen unglaublichen Hebel. Ich kann aber total verstehen, dass sie das Turnier nicht boykottieren. Kein einziger Verband, kein Spieler weltweit hat die WM boykottiert. Es ist total nachvollziehbar, dass ein 25-Jähriger nicht auslöffeln kann, was die FIFA vor zwölf Jahren verbockt hat. Während des Turniers sind die Spieler aber dann natürlich im Tunnel und das Sportliche steht im Vordergrund, wofür man auch Verständnis haben sollte. Man darf die Spieler nicht überfrachten, das wäre unfair.

Und als Fußballfan: Werden Sie sich die WM nun angucken?

Ich werde die WM anders verfolgen, als die WMs zuvor. Aber ich hab jetzt auch ein professionelles Interesse daran, wie die politischen Themen in die Berichterstattung eingebettet werden. Wir haben hier in der "Villa Viva" Besucher*innen, zum Beispiel Bo Svensson, den Trainer von Mainz 05, der hier mit seinem Team das Auftaktspiel geguckt hat. Dazu machen wir dann Frage-Antwort-Runden, in denen wir die WM und die Rolle des Fußballs kritisch reflektieren. Ich bin jetzt sehr daran interessiert, wie die Welt nun mit diesem schwierigen Thema umgeht und was an Protestaktionen passiert. Ich selbst gucke mit einem anderen Gefühl und bestimmt weniger, als in der Vergangenheit.

Im Video: WM-Doppelpass: "Plump! Dreist! Unverschämt!" Experten kritisieren FIFA und Katar