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Ein kleines Land mit großen Träumen: Warum Kroatien jetzt schon Weltmeister ist

Kroatien schreibt in Russland Geschichte und zieht zum ersten Mal in das Finale einer Fußball-WM ein. Ein Land, das gerade mal so viele Einwohner hat wie Berlin, ist auf einmal ganz groß. Und nicht nur 4,2 Millionen Kroaten in Kroatien spielen plötzlich verrückt, sondern auch ungefähr noch mal genauso viele im Ausland. Sogar Nicht-Kroaten fiebern mit. Die Euphorie ist riesig. Dabei sind die Jungs rund um Modric, Rakitic und Co. längst schon Weltmeister – und die berühmte Feierlaune der Kroaten sogar für ein Mini-Erdbeben verantwortlich.

Emotionen pur bei den Kroaten (Bild: Getty Images)
Emotionen pur bei den Kroaten (Bild: Getty Images)

Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, doch bei der EM und WM schlägt mein Herz immer für Kroatien. Denn die Liebe zum Fußball bekommen wir Kroaten bereits in die Wiege gelegt. Fußball nehmen wir sehr ernst und wissen bereits, was Abseits ist, bevor wir überhaupt “Mama“ sagen können. Mein Vater nahm mich schon von klein auf mit ins Fußballstadion, der Rasen des Münchner FC Croatia war in meiner Teenagerzeit mein zweites Wohnzimmer und meine Oma strickte aus Langeweile Söckchen mit dem Logo von Dinamo Zagreb.

Und eben diese Söckchen hingen 1998 auch am Rückspiegel meines 2er-Golfs, als Kroatien bei der WM in Frankreich überraschend Dritter wurde – und das bei der ersten WM-Teilnahme des Landes! Ungefähr 20 Freunde – und Fremde – saßen damals in meinem offenen Kofferraum beim Autokorso auf der Münchner Leopoldstraße und brachten das Auto fast zum Kippen. Es wurde gesungen, geschrien und gehupt – Bengalos wurden angezündet. Dass sich gerade wieder so etwas wie ein Déjà-vu abspielt, lässt sich kaum in Worte fassen.

“Lasst nicht zu, dass wir aufwachen. Lasst uns zusammen noch ein bisschen träumen“, richtete Darijo Srna seinen ehemaligen Teamkameraden der kroatischen Nationalmannschaft aus. Und tatsächlich ist der Augenblick, als Mario Mandzukic in der Nachspielzeit gegen England zum 2:1 trifft, irgendwie surreal: Dass wir nach 1998 überhaupt noch einmal so weit kommen und den Erfolg des goldenen Teams von damals sogar übertreffen würden, hätte niemand für möglich gehalten.

Kroatische Fans außer Rand und Band (Bild: Getty Images)
Kroatische Fans außer Rand und Band (Bild: Getty Images)

Nach 20 Jahren stehen wir also wieder da, wo wir damals aufgehört hatten: beim Feiern auf der Münchner Leopoldstraße, auf dem Trg Bana Jelacic in Zagreb, auf der Riva in Split, in der Autokolonne in Tomislavgrad in Bosnien-Herzegowina, in der kroatischen Gemeinde in Melbourne in Australien und im Pub mit einem Haufen irischer Fußballfans in Dublin.

Proslava plasmana u finale! Hvala svima koji ste uz nas! 🇭🇷 #beproud

Ein Beitrag geteilt von Zlatko Dalic (@daliczlatko) am Jul 11, 2018 um 5:18 PDT

Und im Feiern sind wir Kroaten schon lange Weltmeister. Denn: Wir feiern nicht nur Titel, sondern auch die Qualifikation für die WM oder EM. Wir feiern Niko Kovac, auch wenn wir keine Bayern-Fans sind. Wir schmeißen eine fette Party und bringen die Promenade in Split zum Leuchten – nur, weil Goran Ivanisevic Wimbledon gewonnen hat. Kroaten finden eigentlich immer einen Grund zum Feiern. Und wenn es keinen gibt? Dann feiern wir eben trotzdem.

Mandzukic und seine Mitspieler rennen beim Jubel einen Fotografen um, der Bilder für die Ewigkeit macht (Bild: AFP)
Mandzukic und seine Mitspieler rennen beim Jubel einen Fotografen um, der Bilder für die Ewigkeit macht (Bild: AFP)

Kroatischer Jubel löst Mini-Erdbeben aus

Wir feiern so heftig, dass die Erde bebt. Seismologen der Messstation “Geofizika uzivo“ (“Geophsyik live“) veröffentlichten eine Grafik, die zeigt, dass um 22:20 Uhr und um 22:37 Uhr am Mittwoch eine leichte Erderschütterung in Kroatien gemessen wurde.

Die erste Uhrzeit des Mini-Bebens ist exakt der Augenblick, als Mario Mandzukic das entscheidende Tor gegen die Engländer schoss. Die zweite kennzeichnet das Ende des Halbfinalspiels.

“Die Kroaten stellen gerade meine Hood komplett auf den Kopf”

Was Luka Modric, Ivan Rakitic, Dejan Lovren, Sime Vrsaljko, Mario Mandzukic, Ante Rebic und all die anderen kroatischen Fußballer in uns auslösen, können Außenstehende nur schwer verstehen. “Die Kroaten stellen gerade meine Hood komplett auf den Kopf“, schrieb mir eine Freundin direkt nach dem England-Spiel. Mit Hood meinte sie natürlich ihr Viertel, die Theresienwiese in München. “Ich werde von diesem Gehupe garantiert die ganze Nacht nicht schlafen können“, meinte sie.

Sime Vrsaljko im Delirium auf der kroatischen Flagge (Bild: Getty Images)
Sime Vrsaljko im Delirium auf der kroatischen Flagge (Bild: Getty Images)

Und was war das bloß für eine Nacht! Wie im Rausch: “Ich war nervlich am Ende und habe aus Übersprungshandlung ein Kinder-Überraschungsei gegessen – dabei hatte ich am nächsten Tag einen Termin zur Blutabnahme“, erzählt Lorena Trupeljak, Kroatin aus Samobor. Und auch ich habe bei der Partie gegen England gezittert. Ein weiteres Elfmeterschießen hätte ich mit Sicherheit nicht mehr überstanden. Denn davon gab es in diesem Turnier eindeutig zwei zu viel.

“Ich habe ein paar Mal fast einen Herzinfarkt bekommen“

Zwischendrin habe ich mich sogar ein paar Mal ins Bett gelegt, weil ich diesen Nervenkitzel nicht mehr ausgehalten habe. Als ich lautes Schreien von der Straße hörte und mein Mann durch die halboffene Zimmertür rief, ich solle bitte im Bett bleiben, weil das Glück bringt, wusste ich, dass nach der 1:0-Führung Englands endlich der Ausgleich da war. “Die Emotionen kochen bei dieser WM immer wieder hoch“, bestätigt auch Sanja Prosoli aus Zagreb. “Ich habe ein paar Mal fast einen Herzinfarkt bekommen, doch es hat sich gelohnt.“

Was genau aber bedeutet dieser historische Sieg gegen England und der Einzug ins Finale für so ein kleines Land wie Kroatien? Nach dem Spiel gegen die Three Lions war die kroatische Fußballmannschaft der meistgesuchte Begriff auf Google, der während dieser WM eingegeben wurde. Ein Land, das die meisten vermutlich nur als Kulisse von “Game of Thrones“ oder den Winnetou-Filmen kennen, ist plötzlich in aller Munde. “Stolz und Glaube – das sind Eigenschaften, die unsere Spieler, aber auch unsere Fans auszeichnen“, so Sanja. “Unser Herz schlägt wie eins.“

Und auch Lorena findet: “Die Vatreni (“die Feurigen“) haben aus uns eine riesige, euphorische Masse geformt und uns dazu gebracht, unsere Probleme zu vergessen.“ Dass sich der Erfolg der kroatischen Nationalmannschaft auch auf den Tourismus dieses kleinen Landes auswirken könnte, davon ist Lorena überzeugt. “Das ist ein riesiger Erfolg für Kroatien. Die Spieler haben mit ihrem Auftritt im Promo-Video von ‘Croatia Full of Life’ (Anm. der Redaktion: Kroatische Zentrale für Tourismus) große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Man kann sich nur ausmalen, wie viele Menschen nach dieser WM von Kroatien gehört haben werden.“

Und wer hätte das am Anfang dieser WM überhaupt gedacht? Sogar mein sechsjähriger Sohn meinte: “Messi macht Kroatien platt.“ Als Kroatien dann Messi mit einem 3:0 platt machte, war er total verwirrt. Und als sich dann auch noch sein Fußballheld Ronaldo und Deutschland aus dem Turnier verabschiedeten, verstand er die Welt nicht mehr. Inzwischen fiebert aber auch er mit der kroatischen Nationalmannschaft mit. Wenn er groß ist, will er für Kroatien spielen.

Ivan Rakitic hat einfach seine Klamotten an Fans verschenkt (Bild: Getty Images)
Ivan Rakitic hat einfach seine Klamotten an Fans verschenkt (Bild: Getty Images)

Denn es sind die Eigenschaften dieser Spieler, die auch einen Sechsjährigen überzeugen. Sie haben Kampfgeist. Sie sind herzlich. Sie sind echt. Sie ziehen sich bis auf die Unterhose aus, weil sie ihre Schuhe, ihre Schienbeinschoner, ihr Trikot und ihre Hose den Fans im Publikum schenken.

Dejan Lovren vergießt Freudentränen (Bild: Getty Images)
Dejan Lovren vergießt Freudentränen (Bild: Getty Images)

Sie scheuen sich auch nicht davor, Gefühle zu zeigen. Sie sind Träumer wie du und ich. Sie sind unsere Nationalhelden und lassen uns alles um uns vergessen – wenn auch nur für einen kurzen Moment.

Eines ist jetzt schon sicher: Die Kroaten sind Weltmeister der Herzen. Denn wir sind lange nicht mehr die einzigen, die mit ihnen mitfiebern. Plötzlich wünscht sich die ganze Welt einen Sieg der Kroaten. “Es ist die Pflicht eines jeden Engländers, den Underdog zu unterstützen“, schrieb der englische Autor Boris Starling nach der Niederlage gegen Kroatien auf Facebook. Als weiteren Grund nannte er natürlich: “Sie spielen gegen Frankreich.“

“Kroatien ist wie meine zweite Heimat“

Nach dem Einzug ins Finale bekam ich Glückwünsche aus aller Welt. Es meldeten sich sogar Leute bei mir, von denen ich ewig nichts mehr gehört hatte. Unter den Gratulanten waren auch ganz viele Nicht-Kroaten: Deutsche, Italiener, Ägypter, auch einige Engländer.

“Kroatien ist wie meine zweite Heimat. Ich habe hier und in Kroatien viele Freunde“, sagt beispielsweise mein Bekannter Markus Bloh. Dass er Kroatien anfeuert, macht er nicht nur aus deutscher Höflichkeit. “Am Sonntag bin ich auf alle Fälle für Kroatien, da mich so viel mit dem Land und den Leuten verbindet“, erklärt er.

Sime Vrsaljko mit dem Sohn seines Teamkollegen Domagoj Vida (Bild: Getty Images)
Sime Vrsaljko mit dem Sohn seines Teamkollegen Domagoj Vida (Bild: Getty Images)

“Schon auf dem Weg nach Schwabing begegneten uns lachende Gesichter und Thumbs-ups von Nicht-Kroaten“, berichtet auch Daniela Vukelic, Kroatin aus München. “Und da ist es wieder, dieses Gefühl – mein Herz scheint vor Stolz, Glück und Liebe zu explodieren und ich ertappe mich dabei, wie ich über beide Ohren grinse wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum.“

Menschen aus den verschiedensten Ländern hätten ihr und ihrem Mann neidlos gratuliert. “Ich platze vor Glück. Und diesmal ist es nicht allein wegen Kroatien, sondern weil mir klar wird, wie friedlich die Welt sein kann. Auch wenn es im Fußball um ein Gegeneinander geht, so trägt die WM doch dazu bei, dass ich in dieser Zeit in meiner Stadt ein herzliches und friedliches Miteinander erlebe und mir wünsche, es möge jeden Tag WM sein.“

Kroatien ist im WM-Finale 2018 und spielt gegen Frankreich, den Weltmeister von 1998. Damals verloren die Vatreni mit einem 1:2 im Halbfinale gegen die Équipe Tricolore. Nun haben sie die Chance auf eine süße Revanche. Und falls sie doch nicht Weltmeister werden? “Ist doch nicht so schlimm. Sie haben es trotzdem weit geschafft“, meint mein Sohn. Außerdem: Die Kroaten haben bewiesen, dass Träume wahr werden können. Das haben sie bereits gegen Nigeria, Argentinien, Island, Dänemark, Russland und England gezeigt. Wieso also nicht auch am Sonntag gegen Frankreich?