Wie aus Europas einstigen Corona-Musterschülern Sorgenkinder werden konnten

Österreich, Ungarn, Tschechien und Slowakei sind bisher glimpflich durch die Pandemie gekommen. Doch seit Ende des Sommers häufen sich die Hiobsbotschaften. Auch Deutschlands Zahlen ziehen an.

Vor allem in der österreichischen Hauptstadt Wien steigen die Zahlen deutlich an. Foto: dpa
Vor allem in der österreichischen Hauptstadt Wien steigen die Zahlen deutlich an. (Bild: dpa)

Österreich, Ungarn, Tschechien und Slowakei haben sich während der ersten Welle der Corona-Pandemie das Renommee des Musterschülers erarbeitet. “Wir sind besser durch die Krise gekommen als andere Länder”, verkündete Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz Anfang April stolz.

Seit Ende des Sommers häufen sich die Hiobsbotschaften

Wie seine Amtskollegen in Prag und Budapest betonte er, die rasch vollzogenen Grenzschließungen und Einschränkungen des öffentlichen Lebens hätten eine größere Ausbreitung verhindert. Tatsächlich blieben Infektions- und Todeszahlen deutlich hinter westeuropäischen Ländern zurück – von Hotspots wie den USA, Russland oder Brasilien ganz zu schweigen.

Doch seit dem Ende des Sommers häufen sich die Hiobsbotschaften. Anfang September schloss Ungarn kurzfristig die Grenzen, nachdem sich die Zahlen innerhalb einer Woche verzehnfacht hatten. In Österreich näherten sie sich zuletzt den Rekordwerten von Ende März an. Die Schweiz setzte das Bundesland Wien am 11. September auf die Liste der Risikogebiete, Deutschland zog am Mittwoch mit Wien, Budapest und zwei tschechischen Regionen nach. Die gleichentags in Tschechien gemeldeten 1674 Fälle sind das Vierfache des März-Rekords.

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Geografie und Geschichte hatten die Zentraleuropäer im März noch vor der vollen Wucht der ersten Welle bewahrt: So verfügt Österreich über keine dicht besiedelte, an das stark betroffene Italien angrenzende Region wie das Tessin. An der Ostgrenze existiert zwar ein reger Grenz- und Pendlerverkehr, doch dieser ist 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges noch nicht auf dem gleichen Niveau wie im Westen. Auch Tschechien, die Slowakei und Ungarn sind nicht so eng verflochten wie westeuropäische, transnationale Agglomerationen.

Österreich lockerte früher als anderswo

Der milde Verlauf der Pandemie sorgte dafür, dass die Öffnungsschritte in der Region früher erfolgten als anderswo. Tschechien war Mitte Mai ein Pionierland, als es wieder Versammlungen von bis zu 100 Personen zuließ. Auch die Maskenpflicht, die zunächst stolz zur Nachahmung empfohlen wurde, hob Prag rasch wieder auf.

Der zunächst milde Verlauf förderte wohl auch eine etwas zu lockere Haltung gegenüber dem Virus – allerdings nicht nur in Tschechien. Zur Annäherung an die europäische Normalität führten sicher vor allem die Sommerferien, welche die Bevölkerung an die Strände im Süden strömen ließ, wo sich verschiedenste Nationalitäten mischten.

Die Reiserückkehrer sind in allen Ländern ein bedeutender Faktor für die gestiegenen Zahlen. Dazu kommt, dass die Schule wieder begonnen hat und viele Eltern wieder arbeiten, was die Mobilität erhöht – und damit potenziell die Ansteckungen.

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Dass diese nun häufiger entdeckt werden, hat auch mit der gestiegenen Testintensität zu tun: Ungarn hat die Zahl der Tests pro Million Einwohner seit Juni verdreifacht, in Tschechien und der Slowakei gab es sogar eine Vervierfachung. Auch Österreich, das im regionalen Vergleich bis heute am meisten testet, führt 1350 Abstriche pro Million Einwohner durch; vor zwei Monaten waren es erst 560 gewesen.

Die erste Welle im Frühling erschien somit flacher, als sie wirklich war. Der Anstieg ist entsprechend steiler, wobei die Todesfälle bisher nur leicht zunahmen und auch die Gesundheitssysteme bisher keine Anzeichen einer Überlastung zeigen.

Viele Infektionen in den Hauptstädten

Stark betroffen sind gerade die Hauptstädte: Prag und Wien liegen deutlich über den 60 Infizierten pro 100.000 Einwohner in 14 Tagen, die der Schweizer Bundesrat als Grenze für ein Risikogebiet definiert. Die österreichische Hauptstadt begründet dies allerdings damit, dass sie pro Kopf doppelt so viele Tests durchführt wie im Landesdurchschnitt.

Deutlich höher als dieser ist allerdings auch die Positivitätsrate. Das erklärt ein Sprecher des Gesundheits-Stadtrates damit, dass Wien im Gegensatz zum Rest Österreichs systematisch Personen ohne Anzeichen einer Erkrankung überprüfe. Zudem habe die Schule im Osten früher begonnen als im Westen.

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Tatsächlich steigen dort sowohl die Neuinfektionen als auch die Rate an positiven Tests stark an: 13 Bezirke wären heute laut Definition des Bundesrates Risikogebiete, die meisten von ihnen in Westösterreich. Allerdings werden weder Tirol noch Vorarlberg auf die schwarze Liste kommen, da man in den eng vernetzten Grenzregionen ein Chaos wie im Frühling vermeiden will.

Gesamteuropäische Lösung nicht in Sicht

Da eine gesamteuropäische Lösung nicht in Sicht ist, versuchen die Zentraleuropäer, regionale Absprachen zu treffen. So nahm Ungarn die Bürger der drei anderen Staaten der Visegrad-Gruppe von den Einreisesperren aus. Österreich, Tschechien und die Slowakei einigten sich vor einer Woche darauf, Grenzschließungen unbedingt zu vermeiden.

Doch die Versuchung, den Bürgern in der unsicheren Situation durch die Rückbesinnung auf nationale Reflexe Sicherheit zu vermitteln, ist riesig: Ab Freitag dürfen Personen aus Tschechien nur noch mit einem negativen Testbefund in die Slowakei einreisen.

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