Der folgenschwere Mercedes-Irrtum

Zumindest einer der beiden Mercedes-Piloten hatte nach dem Qualifying in Saudi-Arabien gut lachen.

George Russell brannte am Samstag in Jeddah die viertschnellste Zeit in den Asphalt - und darf wegen der Motorstrafe von Ferrari-Star Charles Leclerc sogar als Dritter in den Grand Prix starten. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Formel 1)

„Das Ergebnis hätte ich im Vorfeld auf jeden Fall genommen. Ich bin echt happy, es macht wirklich Spaß auf dieser Strecke“, freute sich der Teamkollege von Rekordweltmeister Lewis Hamilton (Platz 8) anschließend.

Dabei lobt der Brite sogar seinen zuletzt so viel kritisierten Dienstwagen: „Das Auto hat sich heute ganz gut angefühlt, wenngleich wir natürlich wissen, dass uns insgesamt ein bisschen Downforce fehlt. Aber mehr als heute können wir nicht machen, wenn wir an der Strecke sind.“

Heißt übersetzt: Das wahre Rennen steigt für Mercedes längst in der Fabrik und bei der Umplanung des gesamten Autokonzepts. (DATEN: Die Fahrerwertung der Formel 1)

Formel 1: Mercedes hat neuen Fokus

Noch klarer wird diese Tatsache, wenn man Teamchef Toto Wolff zuhört: „George hat alles rausgequetscht, was im Auto steckt, mehr ist im Moment nicht drin. Die zweite Reihe ist also gut.“

Der Silberpfeil-Boss gibt im gleichen Atemzug aber auch zu bedenken: „Je nachdem, ob man jetzt zwei Zehntel weiter vorne ist, ist man eben Dritter oder Sechster. Es ist aber eigentlich auch egal, denn die großen Schritte müssen wir sowieso in den kommenden Rennen machen.“ (DATEN: Die Teamwertung der Formel 1)

Dann nämlich, wenn Mercedes mit einem neuen Konzept am W14 anrückt: Wolff hatte bereits nach dem verpatzten Auftakt in Bahrain angekündigt, dass es bei den Stuttgartern „keine heiligen Kühe“ mehr gibt. Das waren bis zuletzt die extrem schlanken Seitenkästen des Silberpfeils. Mittlerweile ist klar: Die Wespentaille am Mercedes wird bald Geschichte sein.

Wolff erklärt: „Wir haben wirklich alles versucht, damit es funktioniert und die Daten, die wir hatten, haben das auch suggeriert. Wir wurden aber (auf der Strecke; d. Red.) eines Besseren belehrt.“ Allen voran durch die neue Konkurrenz in Grün, wie Ex-Mercedes-Pilot Nico Rosberg vermutet: „Aston Martins Leistung muss ein Zeichen für Mercedes sein, dass sie auch in die Richtung dieses Konzepts gehen müssen“, sagt der Deutsche bei Sky.

Schließlich hat das Kundenteam ebenfalls den Mercedes-Motor im Heck, fährt dem Werksrennstall aktuell aber vor der Nase rum: Dabei haben sich die Mannen von Lawrence Stroll in Sachen Konzept und Seitenkästen ganz einfach an Klassenprimus Red Bull orientiert. Wolff: „Man kann ja sehen, dass die zwei schnellsten Autos ein ähnliches Konzept haben, wie sie ihre Leistung generieren und das unterscheidet sich stark von unserem.“ Für den Österreicher legt das folgenden Schluss nahe: „Wir lagen ganz einfach falsch.“

Russell kritisch: „Das hat uns wohl auf eine falsche Fährte gelockt“

Besonders bitter: Ausgerechnet der eine Saisonsieg letztes Jahr in Brasilien wurde zum Bumerang, erweckte er doch den Eindruck, dass Mercedes die Lücke endlich schließen konnte und mit dem eigenen Konzept auf dem richtigen Weg war.

„Das hat uns wohl auf eine falsche Fährte gelockt, weil wir wirklich dachten, wir hätten uns als Team verbessert“, bestätigt Sao-Paulo-Sieger Russell, dass sich seine Ingenieure in die Irre führen ließen - und deshalb über den Winter auch für die zweite Saison unter neuem Reglement am eigenwilligen Konzept festhielten.

Für Mercedes bringt das nun ein weiteres Problem mit sich: Denn einfach ein neues Auto bauen, das können die Stuttgarter wegen des Kostendeckels nicht. „Du kannst nur die Aerodynamik und das Bodywork verändern“, rechnet Wolff vor. Mitten während der Saison aber ein komplett neues Auto hinzustellen, quasi einen W14-B, „das steht außer Frage“, sagt der Teamchef mit Blick auf die Budgetobergrenze. (DATEN: Der Rennkalender der Formel 1)

Rosberg: „Mercedes‘ Rückstand ist immer noch schockierend“

Für Experte Rosberg ist allerdings die Selbsterkenntnis der erste Weg zur Besserung: „Meist muss man einen kleinen Schritt zurück machen, bevor man den Schritt nach vorne schafft. Wichtig ist einfach, dass man jetzt konsequent die richtigen Umstrukturierungsmaßnahmen trifft“, sagt der Deutsche, der Mitleid mit seinem ehemaligen Team hat: „Nach all den Erfolgen ist es sicher schwer zu akzeptieren, dass nicht mehr geht und es schlechter wird.“

Der Blick auf die Zeitenliste am Samstag lässt den schwarzen Silberpfeilen nach Meinung Rosbergs aber auch wenig anderen Spielraum als das späte Bekenntnis zum radikalen Wandel: „Mercedes‘ Rückstand ist immer noch schockierend, denn wir wissen ja, dass Verstappen (ohne Technik-Defekt; d. Red.) heute wahrscheinlich noch mal ein gutes Stück schneller als Perez gewesen wäre. Dann ist es schon eine sehr große Lücke.“

Spannend bewertet der Weltmeister von 2016 auch das interne Duell bei Mercedes: „Lewis wird‘s im Debrief heute nicht so gut gehen“, erklärt Rosberg in Bezug auf seinen Ex-Teamkollegen, der Russell auch im zweiten Quali-Duell des Jahres unterliegt und als Achter dreieinhalb Zehntel auf seinen Landsmann verliert: „Man muss George hoch loben. Er ist super gefahren, denn Lewis war eigentlich auch das ganze Wochenende bei der Musik - und wir wissen ja, wie schwer es ist ihn zu schlagen.“