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Der frühe Tod eines mythischen Draufgängers

Der frühe Tod eines mythischen Draufgängers
Der frühe Tod eines mythischen Draufgängers

„Erloschen“ sei das „Licht des Motorsports“. Er habe „den letzte Menschen in einer Welt von Robotern“ verloren.

Etwas zu hoch hob der Corriere dello Sport Marco Simoncelli über die Lebenden, nachdem er am 23. Oktober 2011 beim MotoGP-Rennen in Sepang tödlich verunglückt war, im Alter von lediglich 24 Jahren.

Aber die Wortwahl des Nachrufs vermittelte dann doch auch eine Ahnung davon, wie tief die Wunde ist, die der Crash des Italieners in seiner Heimat und der Motorrad-Szene hinterlassen hatte. Und davon, was von dieser Wunde zurückgeblieben ist: ein Mythos.

Marco Simoncelli: Zwischen Rossi und Jimi Hendrix

Simoncelli, geboren am 20. Januar 1987 im Adria-Badeort Cattolica, hätte auch schon zu Lebzeiten ein Mythos werden können. Der Weltmeister der 250-ccm-Saison von 2008 war die größte Erscheinung, die der Motorradsport in den Jahren vor seinem Ableben hervorgebracht hatte.

Das galt schon rein körperlich: Mit 1,83 Meter war der Honda-Fahrer der am höchsten gewachsene Pilot der MotoGP. Und als er sich auch noch seine Rockstar-Frisur - im Stil des von ihm verehrten Jim Hendrix - zulegte, wurde er endgültig unübersehbar.

Weil Simoncellis Talent nicht dahinter zurückblieb, schien es ihm vorherbestimmt, zum Erben seines Idols Valentino Rossi zu werden: als überlebensgroße Figur seines Sports.

Dass ebenjener Rossi Teil des tödlichen Unglücks war, steigerte die Tragik der Ereignisse.

Tödlicher Unfall 2011 in Sepang

In der zweiten Runde des Grand Prix von Malaysia war Simoncelli in der nach rechts gehenden Kurve 11 das Vorderrad seiner Honda-Maschine weggerutscht. Beim Versuch, das zu korrigieren, geriet Simoncelli ins Kurveninnere, wo er der anrauschenden Konkurrenz mitten im Weg war. Álvaro Bautista wich ihm noch aus, Colin Edwards‘ Yamaha traf ihn dagegen mit voller Wucht im Halsbereich, Simoncelli verlor seinen Helm, Rossis Ducati überrollte das am Boden liegende Crash-Opfer.

„Simoncelli hat hinten einen Rutscher gehabt, einen High-Sider“, bewertete der 2018 ebenfalls früh verstorbene Ex-Weltmeister Ralf Waldmann bei SPORT1 damals die Szenerie: „Wäre das eine Zehntelsekunde früher oder später passiert, wären Rossi und Edwards an ihm vorbeigefahren.“ So allerdings hätte er keine Überlebenschance gehabt: „Bei einem Zusammenprall mit einem 170 Kilo schweren Motorrad, das 170 bis 180 Sachen drauf hat, hält auch der beste Gurt nicht mehr.“

Beim Abtransport fiel Simoncelli - wie der im Jahr zuvor ebenfalls tödlich verunglückte Shoya Tomizawa - den Sanitätern noch von der Trage. Nach weniger als einer Stunde starb Simoncelli, Todesursache waren die schweren Kopf-, Hals- und Brustverletzungen.

Valentino Rossi war Freund und Idol

Gerade auch Rossi war von der Tragödie schwer getroffen, er war mehr als nur Simoncellis Vorbild: "Er war für mich wie ein kleiner Bruder", beschrieb der Rekord-Weltmeister sein Verhältnis zum Verstorbenen. "Bastardo" nannte Rossi das Talent und "einen Verrückten". Aus Rossis Mund ein Kompliment.

Ihn verband vieles mit Simoncelli: das Draufgängertum auf der Strecke, die lässige Einstellung zum Leben daneben, „pure Lebensfreude“ wie es der Corriere formulierte.

Simoncelli und Rossi einte die Gabe, unbedingten Erfolgswillen mit einer charmanten Aura des Augenzwinkerns zu verbinden - die ihre Fans auch oftmals vergessen ließ, wie gefährlich das Treiben bei 300 Stundenkilometern war und ist.

Simoncelli wurde aber eben auch oft vorgeworfen, das auf der Strecke auch zu sehr auszublenden.

Um Simoncellis Fahrstil gab es oft Ärger

Für seine etablierten Konkurrenten war der 250-ccm-Weltmeister von 2008 oft etwas zu draufgängerisch und lässig. Die Aggressivität seines Fahrstils war für seine Kritiker auch übergroß. Oft sorgte er für Crashs und Zorn bei den Fahrerkollegen.

„Vielleicht sollte ihn mal jemand verhaften. Auf seinem Kopf ist nichts außer Haar“, tobte etwa der Spanier Dani Pedrosa, der sich bei einer Kollision mit Simoncelli in Le Mans das Schlüsselbein brach, noch Wochen nach dem Vorfall.

Auch Landsmann Jorge Lorenzo lag oft mit Simoncelli im Clinch: „Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich gegen ihn fahre“, erklärte er ein halbes Jahr vor Simoncellis Tod: „Er überholt immer im letzten Moment, wenn man es nicht erwartet. Für seine Gegner ist das sehr gefährlich.“ Simoncelli fahre „als ob er mit der Playstation spielen würde. Er ignoriert die Wirklichkeit“.

Der Ärger mit den spanischen Idolen führte dazu, dass Simoncelli beim Grand Prix in Barcelona Leibwächter brauchte: Es hatte Morddrohungen gegeben. Der Aggressiv-Stil Simoncellis: Nach seinem Tod war er kein Thema. Der Unfall von Sepang wurde allerorten als Verkettung verhängnisvoller Umstände angesehen, die auch anderen hätte passieren können.

Besondere Beerdigung, besonderes Denkmal

Beobachter meinten seinerzeit erkannt zu haben, dass Simoncelli zuletzt bemüht war, seinen Stil zu zügeln und die richtige Balance zu finden aus vernünftigem Handwerk und der Kunst, als die Simoncelli das Motorradfahren begriff.

"Simoncelli reagiert, wenn er ein Bike sieht, wie einst Mozart beim Anblick eines Klaviers", beschrieb Manager Carlo Pernat vor Simoncellis Tod dessen Verhältnis zu seinem Sport: "Er beginnt zu Träumen und vergisst die Welt um sich herum."

Auch im Gedenken an Simoncelli drückte sich ein besonderes Verhältnis der Motorsportnation Italien zu ihrem aus dem Leben gerissenen jungen Helden aus: Simoncelli wurde in Jeans und T-Shirt beerdigt, auch die Trauergäste - unter ihnen Rossi und der im Februar 2021 selbst tragisch an Corona verstorbene Teamboss Fausto Gresini - kamen in Alltagskleidung.

Zu Simoncellis Ehren wurde die Startnummer 58 nicht mehr vergeben, die Strecke in Misano - auf der es in diesem Jahr tragischerweise auch einen tödlichen Crash gab - trägt inzwischen seinen Namen. Und im Ort Coriano, wo er aufgewachsen war, wurde ihm ein Denkmal in Form eines Auspuffs errichtet. Jeden Sonntag stößt es für genau 58 Sekunden eine große Flamme aus.