Wunder vom Camp Nou: "Diese Energie können nur wir freisetzen"

Und plötzlich ging es noch einmal los, das große Zittern bei Eintracht Frankfurt.

Der FC Barcelona erzielte zu Beginn der neunminütigen Nachspielzeit den Anschlusstreffer und die so lautstarken hessischen Anhänger wurden sekündlich nervöser. (Hier geht‘s zum Spielbericht)

Ein Angriff nach dem anderen rollte auf das Gehäuse von Torhüter Kevin Trapp zu, das Eintracht-Wunder geriet ins Wackeln. Doch selbst ein Elfmetertreffer zum 2:3 aus Barca-Sicht änderte nichts mehr am Ergebnis – und sorgte für eine Gefühlsexplosion an einem denkwürdigen Abend in Camp Nou.

Xavi frustriert: Eintracht wie bei einem Heimspiel

„Die Spieler von Eintracht Frankfurt haben sich wie bei einem Heimspiel gefühlt“, sagte ein sichtlich geknickter Xavi bei der Pressekonferenz nach Abpfiff. Der Jubel der Frankfurter Profis? Grenzenlos! Euphorisch! Sie fielen sich in die Arme, Jubeltrauben bildeten sich auf dem Spielfeld. (Barca-Chef tobt wegen Eintracht-Fans)

Und auf den Rängen? Es fand eine Art Völkerwanderung im Camp Nou statt. Immer mehr Fans, allesamt weiß gekleidet, verließen ihre Plätze und marschierten zum offiziellen Fanblock. Ein Ende war nicht in Sicht, aus allen Ecken und Enden des Stadions kamen die Adler-Träger zusammen. (DATEN: Ergebnisse und Spielplan der Europa League)

5.000 offizielle Tickets? Von wegen! Ob am Ende 25.000 oder 30.000 Fans da waren? Kaum mehr zählbar. Ein Teil der Anhängerschaft von Barcelona - der nach der Halbzeitpause aus Protest darüber, dass die Eintracht so viele Karten erhielt, den Heimblock zehn Minuten leer gelassen hatte - sah sich die Demütigung gar nicht bis zum Ende an.

Eintracht feiert epischen Sieg ausgiebig

Für die Eintracht-Profis hingegen gingen die Feierlichkeiten jetzt erst richtig los! Nach einer ersten Ehrenrunde positionierte sich das Team vor der Tribüne, die sich über drei Stockwerke erstreckt.

„Mes que un Club“ prangert eigentlich über die mittlere Etage in großen gelben Lettern auf blauem Hintergrund. Davon war nichts mehr zu sehen, stattdessen erstrahlte alles in Eintracht-weiß.

Es waren Momente, die den Weg in die Geschichtsbücher des Vereins gefunden haben. Ein Spektakel, das die spanischen Reporter völlig fassungslos zurückließ.

Sie schauten beinahe schon verzweifelt in Richtung Spielfeld, suchten nach den richtigen Worten. „Europacup! Europacup! Europacup – Europacup – in diesem Jahr“, sagen Fans und Spieler unentwegt.

Laute „Hinti! Hinti! Hinti“-Rufe

Als sich Filip Kostic, Martin Hinteregger, Kevin Trapp und Co. schon auf den Weg in die Kabine machen wollten, drehten sie urplötzlich um und rannten wieder auf die Fans zu.

Zweimal wiederholten sie diese Aktion. Gänsehautminuten in einem Camp Nou, das die Eintracht endgültig eingenommen hatte. Rund 30 Minuten nahmen sich die Spieler Zeit.

Und die Anhängerschaft ließ einzelne Helden hochleben. Filip Kostic etwa ist nach seinem Doppelpack gegen Barcelona endgültig zu einer Eintracht-Legende aufgestiegen.

Martin Hinteregger wurde mit lauten „Hinti! Hinti! Hinti“-Rufen bejubelt. Der Österreicher ist Publikumsliebling, seine Leistung gegen den FC Barcelona war heroisch. Nun geht es für ihn mit Frankfurt nach London – an den Ort, wo er 2019 noch den Elfmeter im Halbfinale gegen den FC Chelsea verschossen hatte.

Trapp dachte, „dass ich in Frankfurt bin“

Trapp, der bereits am Seitenrand Richtung Kabine stand und zuvor, wurde ebenfalls lautstark aufgefordert, in die Mitte zu gehen. Er hob die Arme, applaudierte in Richtung Anhang. „Ich dachte schon beim Aufwärmen, dass ich in Frankfurt bin. Es war außergewöhnlich und sehr laut. Die Fans haben so viel auf sich genommen.


Deswegen war es uns auch so wichtig, dass wir möglichst lange draußen bei ihnen bleiben“, sagte ein sichtlich berührter Trapp auf SPORT1-Nachfrage. Er erlebte 2017 noch die 1:6-Demütigung mit Paris Saint-Germain – und konterte nun mit der Eintracht. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Europa League)

Der Architekt dieses Erfolges durfte natürlich nicht fehlen. Trainer Oliver Glasner, der hochemotionale 100 Minuten erlebte, schritt langsam in Richtung Fankurve. Die Mannschaft stand Spalier und der Österreicher, der erstmals so vehement von den Fans aufgerufen wurde, machte stilsicher den „Diver“.

Es gab LaOla-Wellen, der Stolz war allgegenwärtig spür- und greifbar. Glasner selbst war es später ein Anliegen, sich bei Barcelona dafür zu entschuldigen, dass er sich bei seinem Jubel nach dem 3:0 in Richtung Trainerbank der Katalanen drehte. „Das wurde aufgefasst, als wäre es bewusst gewesen. Dafür entschuldige ich mich zutiefst.“

„Das brennt sich ins Herz ein“: Glasner hochemotional

Geblieben ist aber vor allem der emotionalste Augenblick der Trainerkarriere. „Normalerweise gehe ich bei der Ehrenrunde nicht mit. Aber diesen Moment wollte ich aufsaugen und genießen.

Das ist ein emotionaler Lohn, den du mit keinem Geld der Welt kaufen kannst. Das brennt sich ins Herz ein und das nehme ich auch mit, wenn es irgendwann mal eine Etage höher geht“, zeigte sich Glasner berührt.

Und dann war da noch Jens Petter Hauge. Der Norweger bekam einen Fan-Schal und ließ auf dem Weg in die Kabine seinen Tränen freien Lauf. Hauge brachte nach seiner Einwechslung den historischen Erfolg mit über die Bühne.

Es war das packende Ende eines Abends, der schon am frühen Nachmittag mit viel Bier, lautem Gesang und einem rund einstündigen Marsch bei sommerlichen 22 Grad und herrlichem Sonnenschein begonnen hatte – und mit einem epischen Sieg endete. Das „Highlight-Spiel“ - die Eintracht hat den Begriff mit Leben und Emotionen gefüllt.

Hellmann: „Diese Energie können nur wir freisetzen“

„Diese Energie können nur wir freisetzen“, sagte Vorstandssprecher Axel Hellmann zu SPORT1. „Es war ein einmaliges Ereignis mit den Fans“, war Sportvorstand Markus Krösche begeistert.

Weiter geht es im Halbfinale gegen West Ham United. Ob die Eintracht London diesmal auch jubelnd verlässt? Diesen Frankfurtern jedenfalls ist alles zuzutrauen – auch der erste internationale Titelgewinn seit 1980.