Werbung

Frankreichs Pragmatismus liegt voll im Trend

Die Krönung dieses Abends in St. Petersburg war – in doppelter Hinsicht – das Kopfballtor von Samuel Umtiti. Der junge Innenverteidiger vom FC Barcelona nutzte einen Standard, um Frankreich ins Finale zu bugsieren. Natürlich, ist man geneigt zu sagen, bei dieser Weltmeisterschaft der vielen Standardtore. Und es war wohl ebenfalls kein Zufall, dass nicht einer der vielen herausragenden Offensivspieler das erste Halbfinale entschied, sondern einer, zu dessen Kernkompetenz eigentlich das Verhindern von Toren zählen sollte.

Didier Deschamps und sein “Krieger” N’golo Kante
Didier Deschamps und sein “Krieger” N’golo Kante

Frankreich gegen Belgien war wie ein Abziehbild der bisherigen WM. Die Trends wurden eifrig fortgeführt. Der mit den Toren nach ruhenden Bällen. Der mit den wenigen Torchancen. Der mit den sehr auf Torsicherung bedachten Mannschaften. Der mit den drei Linien, die sich vor dem eigenen Tor aufbauen und die Tiefe wie die Breite auf ein minimales Maß reduzieren.

Diese WM hat nach 61 von 64 Spielen all jene enttäuscht, die sich eine Umkehr in der grundlegenden Denkweise fast aller Trainer erhofft hatten. Es gab und gibt keine wirklich neuen Trends, nur die bereits bestehenden wurden und werden manifestiert. Unter anderem jener von der reinen Geschwindigkeit der Spieler, die letztlich den Unterschied ausmachen können. Und der, dass auch 2018 sehr wahrscheinlich die Defensive den Titel gewinnen wird. Respektive die Mannschaft, die am Ende besser verteidigen kann als die anderen. Und nicht fantasievoller angreifen.

Es ist der pure Pragmatismus, der Frankreich so weit gebracht hat. Die Franzosen sind eine von fünf, sechs, vielleicht auch sieben oder acht Nationen, die aus einem nahezu unerschöpflichen Reservoir an begnadeten Offensivspieler auswählen könnten. Didier Deschamps war als Spieler der Arbeiter unter den Künstlern der erfolgreichen Mannschaft von 1998 und 2000 und ist nun der Trainer dieser Mannschaft. Als solcher hat er Größen wie Benzema, Lacazette, Martial, Payet oder Coman gar nicht erst nominiert.

Unheimlich großes Offensivpotenzial

Und trotzdem reiste die Equipe Tricolor mit einem guten Dutzend an Weltklasse-Angreifern nach Russland. Griezmann, Dembele, Mbappe, Giroud, Lemar oder der Aufsteiger des Jahres Fekir sind dabei. Gegen Belgien durften die Gesetzten Griezmann, Mbappe und Giroud beginnen und man könnte sich theoretisch schon sehr gut vorstellen, wie dieses Trio nur so durch die gegnerischen Reihen wirbelt und ein Tor nach dem anderen schießt. Oder wenigstens Chancen am Fließband generiert. In der Praxis sieht Frankreichs Fußball aber die Null als höchstes zu schützendes Gut vor.

Deschamps lässt nicht umsonst mit einer Viererkette und davor einer Dreierkette spielen, mit den überragenden Abfangjägern Kante und Matuidi sowie Pogba, der in beide Richtungen kraftvoll umschalten kann. Das ist die Basis des Erfolgs, nicht die Angriffsreihe. Auch gegen Belgien wurde das ersichtlich. Nach ein paar Minuten der Eingewöhnung stellte sich Frankreich immer besser auf den Nachbarn ein und bekam bis auf Eden Hazard die gefürchtete belgische Offensive voll in den Griff.

Hazard setzte zu zwölf Dribblings an, so viele wie noch kein anderer Spieler bei dieser WM und beendete zehn davon auch noch erfolgreich. Und trotzdem rannte Belgien wie gegen eine Wand. Spätestens nach dem 1:0 kurz nach der Pause verbarrikadierten sich die Franzosen in der eigenen Hälfte, schraubten das Pressing noch eine Linie zweiter nach hinten und nötigte Belgien förmlich dazu, wie beim Handball ohne Tiefe hin und her zu spielen und dann irgendwann schlecht vorbereitet zu flanken. Im französischen Strafraum bedankten sich Umtiti und Varane für die Beschäftigungstherapie.

Ziel- und ergebnisorientiert

Frankreich spielt ziel- und ergebnisorientierten Fußball. Das kann man der Mannschaft und ihrem auch in der Heimat deshalb durchaus angefeindeten Trainer nicht zum Vorwurf machen – es bestätigt aber, am Ende unter Umständen sogar vom kommenden Weltmeister vollführt, wohin die Reise im internationalen Fußball geht. Kreativität und Spielwitz werden immer mehr zu exotischen Randerscheinungen und anderen Parametern deutlich unterlegen.

(Taktische) Disziplin, körperliche Robustheit, Schnelligkeit, Widerstandsfähigkeit und mentale Stärke sind längst mindestens ebenso wichtige Faktoren oder erleben ihre Renaissance. Frankreich bringt alle diese Faktoren auf Weltklasseniveau mit. Dass die Mannschaft auch anders könnte und kann, hat das Achtelfinale gegen Argentinien bewiesen. Da kassierte Frankreich in einer einzigen Partie gleich drei Gegentore, schoss im Angriff aber auch vier. Es war halt Argentinien, diese Mannschaft ohne defensiv tragfähiges Konzept, gegen das selbst Frankreich irgendwann auf Vollgas-Fußball umstellte.

Offenbar erschrocken über sich selbst, hat Deschamps‘ Mannschaft in den beiden Partien danach aber wieder in den Sicherheitsmodus geschaltet. Frankreich hat nun schon vier Mal zu Null gespielt, dazu kommen der Ausreißer gegen Argentinien und ein Elfmetergegentor gegen Australien. Es sind nicht Griezmann, Mbappe oder Fekir, die das Rückgrat dieser Mannschaft bilden. Sondern die Defensivspezialisten Umtiti, Varane, sogar Pavard und das Bollwerk davor mit Kante und Matuidi.

Mit dem frühen Scheitern der Superstars Ronaldo, Messi, Neymar oder Müller und nun auch De Bruyne und Hazard bleibt eigentlich nur noch Englands Kane, der als Offensivspieler zum besten Spieler des Turniers gewählt werden könnte. Es spricht einiges dafür, dass es beim Turnier in Russland ein defensiver Mittelfeldspieler packt. Luca Modric wäre ein Kandidat, aber eben auch einer aus dem Duo Umtiti-Varane. Die haben nämlich jetzt schon das 2014 noch erfolgreiche deutsche Gespann Hummels und Boateng als bestes Innenverteidigerpärchen abgelöst.