Fünf Gründe, warum man die englische Nationalelf mögen muss

England steht zum ersten Mal seit 28 Jahren wieder in einem WM-Halbfinale. Mit einer Mannschaft, die anders als die Beckham/Gerard/Lampard/Rooney-Generation nahezu ohne Stars auskommt. Die Euphorie im Mutterland des Fußballs ist riesig. Und es gibt gute Gründe, sich mit den Three Lions zu freuen.

Trauma überwunden! England besiegte Kolumbien im Elfmeterschießen
Trauma überwunden! England besiegte Kolumbien im Elfmeterschießen

Gareth Southgate

1996 hätte ganz England den Spieler Gareth Southgate am liebsten gelyncht. Im EM-Halbfinale traf der Gastgeber auf Lieblingsfeind Deutschland. Die Regenbogenpresse kramte die Stahlhelme raus und übertrieb es deutlich mit der Kriegsrhetorik. Am Ende musste das Elfmeterschießen entscheiden. Southgate verballerte, Andi Möller schoss Deutschland ins Finale.

22 Jahre später liegt ganz England dem Trainer Gareth Southgate zu Füßen. Er hat es mit Akribie geschafft, aus einer jungen Mannschaft ohne echte Stars (von Harry Kane einmal abgesehen) einen Anwärter auf den WM-Titel zu machen. Southgate lässt im Training Standardsituationen bis zum Erbrechen üben – acht von zehn englischen Toren in Russland fielen nach ruhenden Bällen. Southgate lässt auch seit März regelmäßig Elfmeterschießen trainieren – gegen Kolumbien im Achtelfinale überwand England sein Trauma vom Punkt.

Zudem ist Southgate eine sehr angenehme Erscheinung, stets höflich auch zu hartnäckigen Journalisten und stets gut gekleidet. Seine Seidenweste ist der Verkaufsschlager in England; seit WM-Beginn wuchs der Absatz um 35 Prozent.

Gareth Southgate: Englands Jürgen Klinsmann

Gareth Southgate ist seit 2016 englischer Nationaltrainer
Gareth Southgate ist seit 2016 englischer Nationaltrainer

Jordan Pickford

England und seine Torhüter – das war im Grunde jahrzehntelang ein Trauerspiel. Seit dem großen Peter Shilton ist es keinem Nationalkeeper mehr gelungen, die Herzen der Fans zu erobern. Im Gegenteil: Selbst Arsenal-Legende David Seaman war nach seinem folgenschweren Patzer im WM-Viertelfinale 2002 gegen Brasilien komplett unten durch. Die Zeitung The Sun druckte damals zwei brennende Torwarthandschuhe ab und bat alle Engländer, die einigermaßen was zwischen den Pfosten drauf haben, sich als neue Nationaltorhüter beim englischen Verband zu bewerben.

Jordan Pickford brauchte nur ein paar Spiele und ein paar Glanzparaden, um everybody’s darling zu werden. Der 24-jährige Torhüter, der englischer aussieht als alle anderen 24-jährigen Engländer, ist erst seit November 2017 Englands Nummer eins. Bevor er 2017 vom FC Sunderland für 25 Millionen Pfund zum FC Everton kam, spielte er jahrelang in der zweiten und dritten Liga. Das hat Pickford geprägt.

“Ich habe viele Spiele in Englands 2. Liga absolviert – die ist sogar härter als die Premier League, eine größere Herausforderung. Und ein WM-Halbfinale ist wie ein Zweitligaspiel, nur dass die Bühne etwas größer ist. Man wächst an seinen Aufgaben”, sagt Pickford und vergleicht seinen Job mit dem eines kleinen Handwerkes. “Man muss das mal so sehen: Jemand, der Elektriker wird, sammelt ja auch erst an kleinen Sachen Erfahrungen, bevor er an den ganz großen Dingen rumschrauben darf.” Herrlicher Vergleich.

Jordan Pickford, ein junger Mann ohne Starallüren, hat eine ganz große Karriere vor sich.

Jordan Pickford ist Englands großer Rückhalt bei der WM in Russland
Jordan Pickford ist Englands großer Rückhalt bei der WM in Russland

Harry Maguire

2016 reiste Englands Innenverteidiger mit seinen Brüdern und ein paar Kumpels den Three Lions während der EM in Frankreich als Fan hinterer. Zwei Jahre später spielt er ein WM-Halbfinale – ein fast schon kitschiges Märchen.

Dass England überhaupt unter den letzten Vier steht, ist nicht zuletzt dem 100-Kilo-Koloss von Leicester City zu verdanken. Beim 2:0 gegen Schweden im Viertelfinale köpfte Maguire den Führungstreffer. Auf der Insel wird er ehrfurchtsvoll “Slab-Head” genannt, zu deutsch Quadratschädel.

Doch Maguires ist mehr als ein kantiger Abwehrspieler, der hin und wieder seine Birne hin hält. Craig Shakespeare, Maguires ehemaliger Trainer in Leicester, sagt über ihn: “Er hat mich vor allem mit seinen unzähligen Fragen zu unserer Taktik und dem Spielstil beeindruckt.”

Nur 28 Spieler hatten in der vergangenen Premier-League-Saison eine bessere Pass-Statistik als Maguire.

Als er in Frankreich unterwegs war, merkte Maguire, was es bedeutet, wenn Menschen Zeit und Geld für die Three Lions aufbringen.

“Ich bin mir der Opfer total bewusst geworden. So eine Reise kostet unglaublich viel Geld und Energie. Schon allein deshalb war die Reise nach Frankreich eine lehrreiche und ungeheuer wertvolle Erfahrung für mich”, sagte Maguire. Und als er wieder zuhause war, schwor er sich: Sollte ich mal für die Three Lions spielen dürfen, werde ich den Fans etwas zurückgeben. Diese Mission hat Maguire bereits erfüllt.

Mega Fan-Feste in ganz England

Was Deutschland vor allem 2006 erlebte, hält zwölf Jahre später Einzug in England. In Scharen wird gemeinsam friedlich Fußball geschaut, gemeinsam gezittert, gemeinsam gejubelt. Überall im Land treffen sich Fans zum Public Viewing, die Bilder, die auch Deutschland erreichen, sind sensationell.

Der Sportsgeist der Briten sucht auf der Welt noch immer seinesgleichen. Ob Engländer, Schotten, Waliser oder Nordiren – Sport und insbesondere Fußball wird auf der Insel ganz speziell gelebt.

Und eine Sache ist bei aller Euphorie und Emotion ganz wichtig: Von Ausschreitungen ist absolut nichts bekannt, auch nicht von den Fans in Russland.

WM-Titel für England? Gut für den Fußball

Die Engländer haben dieses wunderschöne Spiel erfunden. Das macht sie aber lange nicht automatisch erfolgreich. Der einzige WM-Titel stammt aus dem Jahr 1966, eng verknüpft mit dem legendären Wembley-(Nicht)Tor von Geoff Hurst im Finale gegen Deutschland. Seitdem geht eigentlich gar nichts mehr. Brasilien (5), Deutschland und Italien (je 4) sind, was WM-Titel angeht, weit enteilt. Auch Argentinien und Uruguay (je 2) haben mehr WM-Titel.

Die Engländer müssen seit mehr als einem halben Jahrhundert viel Spott ertragen, wenn eine Europa- oder Weltmeisterschaft gespielt wird. Bei der WM 1994 in den USA und der EM 2008 in Österreich und der Schweiz war England erst gar nicht dabei.

Mancher Experte sieht in einem möglichen WM-Titel der Three Lions die Gefahr, dass die Premier League noch mächtiger werden könnte. Dabei kann dem Fußball eigentlich wenig besseres passieren, als ein WM-Titel für das Mutterland des Fußballs, errungen von einer jungen, bescheidenen Mannschaft ohne Superstars. Die sind bekanntlich alle schon längst zuhause.

Der Fußball könnte am 15. Juli nach Hause kommen. Das wäre nicht verkehrt.