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Gabriel Jesus' Tränen - ich bin gerettet!

Ich muss oft an den Tag denken, an dem mir ein Bayern-Profi davon erzählt hat, wie es sich für einen Spieler anfühlt, wenn ein Spiel zu Ende ist. Ich glaube, es war Mehmet Scholl.

Er erklärte mir, wie das ist, wenn langsam der Druck abfällt. Alles leise wird. Du setzt dich nach dem Duschen ins Auto, fährst nach Hause und legst dich ins Bett. Eben war noch die Hölle los, 60.000 Leute haben dich angefeuert und angeschrien. Reporter haben dich befragt. Leute dir auf die Schultern geklopft. Und jetzt ist da nichts mehr.

Draußen zwitschert vielleicht ein Vogel, und in deinen Ohren summen noch die letzten Schreie der Fans, aber sie werden leiser. Du bist allein. Alles ist still. Nur der Vogel zwitschert draußen vor sich hin und ahnt nichts von dem Adrenalin, das durch deinen Körper fließt und nicht genau weiß, wo es hinsoll. Du drehst dich hin und her, und du kannst nicht schlafen. Irgendwas fehlt dir.

So läuft das bei Fußballprofis: Ein Absturz von 100 auf 0 in wenigen Stunden. Jede Woche.

In Deutschland gibt es über 15 Millionen Hardcore-Fußballfans, die jetzt alle ganz genau dasselbe durchmachen. Jeden Tag.

Dokus und Biografien als Methadonprogramm

Bei mir fing es Mitte März an. Ich bin Sportjournalist und Fußballfan, mein Leben hatte immer viel mit Sport zu tun. Aber jetzt ging langsam der Stoff aus. Wenn ich auf Sportseiten klickte oder in die Zeitung schaute, begegneten mir immer dieselben Themen: Corona. Spielabsagen. Rückblicke. Was-wäre-wenn-Diskussionen. Wenn's hochkam: Transfergerüchte.

Ich dachte: Das ist nicht gut. Da ist was weg, das zu dir gehört. Ich saß im Homeoffice und fühlte mich leer. Das Brüllen der Fans, die Torschreie, auch die erstickten, das Ungewisse, die Spannung - all das fehlte mir. Es gibt ja auch keine künftigen Spiele mehr, auf die ich mich freuen könnte. Nichts am kommenden Samstag, über das ich mit irgendwem diskutieren kann.

Lange hältst du das nicht aus, dachte ich.

Ich hatte am Sonntag zuvor was Neues probiert und das Geisterspiel Juventus gegen Inter Mailand angesehen. Katastrophe. Das ist ja gar nicht Fußball, dachte ich, da schieben nur 22 Männer was Rundes hin und her. Das kann nicht die Lösung sein.

Und dann fand ich die Antwort.

Ich schaue mir seither jeden Tag alles an Sportdokus an und lese alle Sportler-Biografien, die ich in die Finger kriege. Das ist mein Methadonprogramm in der Krise. Ich habe eine neue Welt entdeckt, und sie ist toll. Ich bin gerettet.

"Trainer!" als Erweckungserlebnis

Wie ich darauf gekommen bin? Zuerst erinnerte ich mich an die Doku "Trainer!", die ich vor ein paar Jahren gesehen hatte. Regisseur Aljoscha Pause begleitete 2012 drei Fußballlehrer eine Saison lang bei ihrer Arbeit in der 2. und 3. Liga: Stephan Schmidt, damals in Paderborn, Frank Schmidt, einst wie heute in Heidenheim, und André Schubert beim FC St. Pauli.

Diese Doku war wie ein Weckruf. Spannender als ein Fußballspiel. Ich durfte plötzlich dabei sein. Ich saß nicht mehr auf der Tribüne oder auf dem Sofa, sondern in der Trainerkabine. In der Umkleidekabine. Ich war wie elektrisiert. Ich war da, wohin ich es sogar als aktiver Fußballreporter beim FC Bayern und der Nationalmannschaft nie hingeschafft hatte. Ich hörte den Gesprächen der Spieler zu, war Zeuge von Streit, Freude, Pläneschmieden. Und es war spannend. Ich hoffte auf Tore in Spielen, die längst vorbei waren. Ich war mittendrin.

Man sagt, das Besondere an Dokus sei, dass die Gefilmten an einem Punkt der Dreharbeiten nicht mehr realisieren, dass sie gefilmt werden. Ich habe festgestellt, dass es sich umgekehrt genauso verhält: Wenn du dir stundenlang eine Doku ansiehst (und es gibt einige, die stundenlang dauern: Ich will die besten in meiner Kolumne vorstellen), glaubst du am Ende, dass du selbst im Kader der Mannschaft stehst, um die es geht. Dass du mitspielst. Dass du der Trainer bist. Es ist einfach wunderbar.

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Seit ich "Trainer!" gesehen habe, fiebere ich mit dem 1. FC Heidenheim mit. Die empathische Art von Trainer Schmidt hat mich tief beeindruckt. Einmal brüllt er: "Wir können uns jetzt nicht alles kaputt machen, was wir aufgebaut haben!" Seine Stimme bricht. In dem Moment wäre ich am liebsten aufgesprungen und selbst auf den Platz gerannt.

"Sommermärchen" als Einstiegsdroge

Natürlich habe ich "Deutschland. Ein Sommermärchen" gesehen. 2006 im Kino. Auch das: großartig. Eine Art Mutter meiner Doku-Sammlung.

Ich war damals in der Chefredaktion von Sport Bild und ärgerte mich auch ein bisschen: "Wie kann es sein, dass so viele Dinge passiert sind, die kein Reporter mitbekommen hat?", fragte ich mich. Zum Beispiel der Streit der Mannschaft um den Auftritt auf der Fanmeile in Berlin nach dem Spiel um Platz 3 in Stuttgart. Michael Ballack wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen: Er wolle Urlaub machen, sagte er.

Ich war fasziniert, denn ich hatte trotz meines Jobs bei der immerhin größten Sportzeitschrift Europas keine Ahnung davon gehabt. Oder die Szene, die zeigt, dass Lukas Podolski Kartoffelchips in sich stopfte. Kein Wunder sind wir nur Dritter geworden, dachte ich.

Das sind ältere Produktionen, aber gut als Einstiegsdroge. Und es gibt inzwischen auch tonnenweise neues, tolles Material. Ich gucke alles. Zeit habe ich ja jetzt.

Tite und der Mut

Ende letzter Woche habe ich, quasi in einem Atemzug, die neueste Staffel der Dokureihe "All or Nothing" auf Amazon Prime angesehen. Fünf Folgen oder über vier Stunden lang begleitete ich die brasilianische Nationalmannschaft bei der Copa América 2019 - von der Vorbereitung bis zum Ende. Also Sommermärchen auf Brasilianisch. Nur ohne Platz 3.

Ich war gefesselt und begeistert von der ersten Sekunde. Der Nationaltrainer Tite hält da eine unglaubliche Ansprache an seine Mannschaft. Er spricht von Mut. Für ihn ist alles Mut. Ich möchte den sehen, der sich diese Staffel ansieht und danach nicht Brasilien-Fan ist. Der nicht am liebsten von Tite adoptiert werden würde.

Ich muss gestehen, ich wusste rein gar nichts von Tite und der Arbeit der Brasilianer. Ich dachte immer (übertrieben formuliert), die zaubern im Training ein bisschen herum, lachen viel, tanzen nach dem Abendessen Samba, der Trainer sagt ein paar warme Worte - und den Rest erledigt das Talent der Spieler. Ich hätte nicht falscher liegen können.

Die Doku zeigt harte Arbeit, Aufopferung, Technologie, Emotionen. Sie zeigt die Menschen hinter den Spielern, die teilweise aus tiefsten Schichten kommen und jetzt Multimillionäre sind. Sie zeigt, wie viel ihnen die Selecao bedeutet. Sie zeigt, wie modern der brasilianische Fußball arbeitet. Der Trainerstab kommt ausführlich zu Wort, und wir sehen, dass sogar einzelne Muskelstränge der Spieler vermessen werden.

Die Tränen von Gabriel Jesus

Die Doku zeigt auch viele unglaublich emotionale Ansprachen von Tite. Der geht übrigens vor jedem Spiel von Spieler zu Spieler und schüttelt jedem einzelnen die Hand und hat für jeden einen Spruch. Auch mit den Ersatzspielern macht er es so. Und er betet viel. Das alles zeigt die Doku. Tite ist ein guter Mensch, das kann man so sagen. Alleine das ist schon die ganze Serie wert.

In einem Spiel kassiert übrigens Gabriel Jesus eine Rote Karte. Was dann passiert, ist unglaublich. Der Stürmer von Manchester City muss in die Kabine geführt werden. Aber damit endet es nicht. Damit endet es nur bei Live-Übertragungen.

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Diesmal bleibt eine Kamera bei ihm. Zeigt, wie Gabriel Jesus allein hinten in einer Ecke der Umkleidekabine weint und auf Knien für seine Mitspieler betet. Er verzweifelt fast in dieser stillen Ecke, weil er nicht helfen kann, während zwei Türen weiter, draußen vor 75.000 Zuschauern das Spiel weiterläuft.

Für mich ist das eine der emotionalsten Szenen, die ich je im Fußball gesehen habe.

- "All or Nothing - Brazil National Team" - 2020, erhältlich bei Amazon Prime
- "Trainer!" - 2013, erhältlich im Stream bei GEO Channel, Download bei Maxdome oder als DVD/Blu-ray
- "Deutschland. Ein Sommermärchen" - 2006, erhältlich als DVD

Alex Steudel ist Sportjournalist und seit seiner Kindheit glühender Sportfan. Mitte März brach alles weg: Kein Livesport mehr weit und breit. Um den Entzug erträglich zu machen, stieg Steudel auf eine Ersatzdroge um: Dokumentationen oder Biografien – meistens, aber nicht immer handeln sie von Fußball. Es geht ihm inzwischen viel besser. Ach was, es geht ihm super: Er hat eine neue Welt entdeckt. In dieser Kolumne erzählt er davon.