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Hat der Rechtsstaat versagt? - SAT.1-Dokumentation zum "Mordfall Peggy" lieferte neue Details

Weil die Ermittlungen Ende letzter Woche offiziell eingestellt wurden, zog SAT.1 einen geplanten Primetime-Dokumentarfilm über eines der größten ungeklärten Verbrechen in Deutschland auf Montagabend vor. Die Recherche-Ergebnisse werfen kein gutes Licht auf die Ermittler.

Ein geistig behinderter Mann saß fälschlicherweise zehn Jahre in Haft. Die Aussagen zahlreicher Augenzeugen am Tag des Verschwindens der neunjährigen Peggy 2001 hat man ignoriert, und zuletzt war ein unschuldiger Familienvater mit fragwürdigen Methoden dazu gedrängt worden, eine Tatbeteiligung zugegeben - das waren die brisantesten Erkenntnisse des "True Crime"Dokumentarfilms "Mordfall Peggy - Der Täter ist noch unter uns". Am Montag lief der Beitrag zur besten Sendezeit bei SAT.1.

Zwischenzeitlich geriet der bis heute ungelöste Tod des Kindes aus der kleinen oberfränkischen Gemeinde Lichtenberg gar in Verbindung mit dem Treiben des NSU - weil wegen einer Panne bei der Spurensicherung versehentlich DNA von Rechtsterrorist Uwe Böhnhardt am Fundort der Peggy-Überreste gelandet zu sein schien. Eine falsche "Spurenübertragung" der Ermittler, wie sich später herausstellte. Nun hat die Staatsanwaltschaft Bayreuth den Tod von Peggy Knobloch zum "cold case" erklärt - die Ermittlungen wurden offiziell eingestellt. Dass sich Polizei und Staatsanwaltschaft in den knapp 20 Jahren zuvor nicht mit Ruhm bekleckerten, zu diesem Schluss kam die mit nachgestellten Szenen und vielen Interviews arbeitende XXL-Doku.

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"Der Fall Peggy ist einer der mysteriösesten Kriminalfälle Deutschlands, vergleichbar mit dem Fall Madeleine McCann", sagte eine Redakteurin der Nürnberger Nachrichten, die sich mit dem Fall auskennt. "Peggy war sehr bekannt im Ort, sie war quirlig und aufgeschlossen."

Lichtenberg in Oberfranken, 1.000 Einwohner. Hier kennt quasi jeder jeden. Peggy lebt hier mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und der jüngeren Schwester. Die Eltern arbeiten im Schichtdienst. Als Altenpflegerin und Angestellter in einer Textilfabrik. Peggy muss früh alleine zurechtkommen, ist viel unterwegs im Ort.

Nach der Schule war die Betreuung des Mädchens nicht klar geregelt, sie ist durch den Ort "gestromert", hat mal hier, mal da gegessen, war überall bekannt und beliebt. Doch schon neun Monate vor dem Verschwinden Peggys mehren sich Hinweise, dass mit dem Mädchen etwas nicht stimmte. Dies zumindest hat Journalist Christoph Lemmer herausgefunden, der sich wie kein Zweiter mit dem Fall beschäftigt hat. "Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals" heißt sein Buch, dass er bereits 2013 mit seiner Co-Autorin Ina Jung veröffentlichte. Hier nun noch einmal die unglaubliche Geschichte des Kriminalfalls und seine - unglaublichen - Ungereimtheiten, die der Dokumentarfilm zusammenträgt.

Der Tag des Verschwindens und ein Stiefvater

Montag, 7. Mai 2001: Von kurz vor acht bis 12.50 Uhr besucht Peggy die Schule, niemandem fällt dort etwas Ungewöhnliches auf. Um 13.24 Uhr wird sie laut Staatsanwaltschaft von einer im Schulbus fahrenden Freundin das letzte Mal gesehen. Es sind von dieser letzten "Sichtung" nur noch rund 50 Meter bis zu Peggys Wohnhaus, wo das Mädchen nie ankommt. Die Ermittlungen gingen jahrelang nur in die Richtung, dass auf diesem letzten Wegstück etwas passiert sein muss. Um 20 Uhr kommt die Mutter nach Hause. Das Suchen und das Nachfragen bei Nachbarn und Freunden bleibt erfolglos, um kurz vor 22 Uhr geht ein Notruf bei der Polizei ein. Es folgen 4.000 Hinweise aus der Bevölkerung, Hundertschaften von Polizisten durchkämmen Felder und Wälder, Tornado-Jets suchen mit Wärmebild-Kameras. 1.500 bereits auffällig gewordene Straftäter aus der Gegend werden überprüft.

Als verdächtig gilt zunächst Peggys Stiefvater, der kein gutes Verhältnis zum Mädchen gehabt haben soll. Der Deutschtürke glaubte lange, er sei der Vater von Peggys kleiner Schwester: Man vermutet jedoch, dass er wenige Tage vor ihrem Verschwinden erfahren haben soll, dass er nicht der Vater des jüngeren Kindes war. Verletzter Stolz wird von den Ermittlern als Motiv ins Feld geführt. Es gibt Gerüchte, dass Peggy in die Türkei entführt wurde. Agenten und Kriminaler aus verschiedenen Ländern sind mit der Spur befasst. Doch es ergeben sich keine weiteren Hinweise, die Ermittlungen gegen den Stiefvater werden eingestellt.

Der Pädophile und die "Überführung" eines Behinderten

Eine weitere Spur ergibt sich über ein Schulheft Peggys. Darin finden die Ermittler einen Tag nach dem Verschwinden den von einem Erwachsenen geschriebenen Zettel mit einer Telefonnummer. Sie gehört einem Verwandten von Peggys Nachbarn, der leicht verwahrlost auf einem Bauernhof in der Nähe von Halle in Sachsen-Anhalt, lebt. Ermittler suchen den Mann auf, er trägt eine selbst gebastelte Kette mit einem Foto Peggys um den Hals. Tatsächlich hat er dem Mädchen seine Nummer gegeben, war einige Male auf Besuch in Lichtenberg gewesen und hatte Peggy dort getroffen. Auf einer CD im Zimmer des jungen Mannes findet man ein Porträt Peggys - und strafbaren Aufnahmen von weiteren Kindern. Das Alibi des im Film "Thorsten E." genannten Mannes wurde von der Polizei widerlegt. Zudem gab es innerfamiliäre Missbrauchsvorwürfe gegen den Verdächtigen. Trotzdem kamen die Beamten zum Schluss, er habe nichts mit dem Fall zu tun. "Thorsten E." (der Name wurde für den Film geändert) habe kein Auto zur Verfügung und er sei lange vor der Tat nicht mehr in Lichtenberg gewesen, was Journalist Lemmer beides widerlegt haben will.

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Die Beamten verfolgten derweil eine andere Spur: die eines jungen, geistig zurückgebliebenen Mannes aus Lichtenberg, der sich in der Vergangenheit des Öfteren von Menschen entblößt hatte. Ulvi Kulac, ein beliebter, als harmlos geltender Mitbürger, sei in etwa auf dem geistigen Stand eines acht- oder neunjährigen Kindes, heißt es. Der Verdächtige befand sich 2002 in der Bayreuther Psychiatrie und wird dort von einem anderen Insassen angezeigt, der behauptet, Ulvi hätte ihm gegenüber den Mord an Peggy gestanden. Dieser bestreitet das jedoch. Als ein älterer Polizist, den Ulvi aus seinem Heimatort kennt, als "good cop" - wie es im Film heißt - eingeschleust wird, als der Anwalt schon gegangen ist, gesteht der geistig behinderte Mann dann doch.

Die Leiche jedoch findet er jedoch nicht. Ulvi K. wird wegen Mordes verurteilt, ohne Leiche, ohne Beweise, ohne Zeugen. Nur mit einem Geständnis, das auf den falschen und später widerrufenen Aussagen des Mitpatienten, eines ehemaligen V-Mannes, beruhte. Eine Bürgerinitiative, die Recherchen von Journalist Christoph Lemmer und ein Anwalt treten auf den Plan. Ulvi Kulac und seine Vormundin erreichen eine Wiederaufnahme des Verfahrens, das mit einem Freispruch "erster Klasse" für den unschuldig zehn Jahre in Haft sitzenden Mann endet.

Das Ignorieren der Zeugen nach 13.24 Uhr

Eines der merkwürdigsten Details in dem an merkwürdigen Details reichen Fall Peggy: Es finden sich mindestens ein halbes Dutzend - laut Christoph Lemmer sehr stimmige - Zeugenaussagen von Menschen, die Peggy am Tag ihres Verschwindens noch zwischen 13.24 Uhr und etwa 19 Uhr in Lichtenberg und Umgebung gesehen haben wollen - zunächst beim Bäcker und in Begleitung eines kleineren Mädchens. Später haben Touristen sie auf einem Wanderweg außerhalb des Ortes getroffen. Schließlich berichten zwei Jungen unabhängig voneinander, sie hätten Peggy gegen 19 Uhr auf dem Weg zu einem kleinen Weiler außerhalb des Ortes gesehen.

All das wussten die Ermittler laut SAT.1-Film bereits 2001, aber die Angaben passten nicht in die Version, in der Ulvi K. der Täter war. Denn der hatte ja gestanden, das Mädchen bereits am Mittag getötet zu haben. Die zweite Phase des Falles Peggy beginnt 2013 und 2014 nach dem Freispruch von Ulvi Kulac. Auch der Pädophile "Thorsten E." wird nach den Recherchen Lemmers wieder befragt, und es kommen Details ans Licht, dass er das Mädchen umarmt und geküsst hat. "Thorsten E." wird verurteilt, weil er die eigene Tochter und Peggys Freundin missbraucht hat, mit Peggys Tod will er aber nichts zu tun gehabt haben.

Andererseits passt zu Christoph Lemmers Theorie, dass der Fall Peggy mit pädophilen Machenschaften zu tun haben könnte, die Veränderungen im Leben des Mädchens in den neun Monaten vor ihrem Tod. Es war eine Zeit, als Peggy ihre Unterhosen versteckte und sich wieder einnässte. Ihr damaliger Fußballtrainer berichtet im Film von seltsam sexualisierten Sprüchen, mit denen er durch das Mädchen konfrontiert wurde - und die keineswegs altersgemäß gewesen seien. Gleichzeitig sollte ihr ein Psychopharmaka verschrieben werden, und Peggy wollte nicht mehr zu den Nachbarn, den Verwandten von "Thorsten E.". Trotzdem fand die Polizei - laut Filmaussagen - keine weiteren Hinweise und gab die Spur "Thorsten E" auf.

Der Leichenfund und ein letzter "Schuldiger"

Am 2. Juli 2016 fand ein Pilzsammler etwa 15 Kilometer entfernt von Peggys Heimatdorf die menschlichen Überreste des Mädchens. Die Ermittler glaubten jedoch, dass der Fundort nicht der Tatort sei. Sogar DNA von NSU-Terrorist Uwe Böhnhardt wollte man bei Peggy gefunden haben - doch es war eine Schlamperei, denn die DNA Böhnhardts wurde von den Ermittlern selbst versehentlich zum Tatort gebracht.

2018 dann eine letzte skurrile Verdächtigung und "Überführung" im Fall Peggy. Gärtner-Torf und Farbpartikel an Schuhen und Kleidung von Manuel S., einem zweifachen Familienvater aus der Umgebung, sollten an der Leiche Peggys gefunden worden sein. Der freigesprochene Ulvi K. hatte S. belastet. Der Mann wurde laut exklusivem SAT.1-Interview unter Druck gesetzt, ein Anwalt wurde ihm lange verwehrt, schließlich erzählte S. eine Geschichte, die ihn selbst belastete, nur um aus dem Verhör freizukommen. Tage später fand eine Pressekonferenz statt, auf der S. als Täter oder Mittäter namentlich genannt wurde - eine Verdächtigung, die nun widerrufen wurde, Manuel S. ist mittlerweile rehabilitiert.

Bleibt die Frage, warum sich die Ermittler im TV-Beitrag nicht äußern wollten. Laut des 137 Nettominuten langen SAT.1-Films hat die Staatsanwaltschaft Bayreuth davon abgesehen, Fragen zum Fall beantworten. Auch der Justizminister und Innenminister des Freistaates Bayern lehnten eine Stellungnahme ab. Nun die Meldung von der Einstellung des Verfahrens - ohne, dass ein Mörder gefunden wurde. Peggys Mutter bedauert das Ende der Ermittlungen und lässt ihre Anwälte prüfen, ob sie dagegen vorgehen kann.