Wie ein Horror-Unfall die F1-Karriere eines Riesentalents stoppte

Wie ein Horror-Unfall die F1-Karriere eines Riesentalents stoppte
Wie ein Horror-Unfall die F1-Karriere eines Riesentalents stoppte

Am Sontag steigt mit dem Großen Preis von Monaco das wohl mondänste Rennen in der Formel 1 (Formel 1: Monaco-GP ab 15 Uhr im SPORT1-Liveticker).

Ein Grand Prix, an den der frühere deutsche Rennfahrer Karl Wendlinger ganz spezielle Erinnerungen hat. 1994 erlitt er bei einer Trainingseinheit im Fürstentum einen schweren Unfall und musste ins künstliche Koma versetzt werden.

Erinnern kann sich der 52-Jährige, der am Sonntagabend im AvD Motor & Sport Magazin zu Gast ist, an das Ereignis nicht.

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Und doch hat es seine Karriere als Rennfahrer frühzeitig beendet. Im SPORT1-Interview spricht Wendlinger über das verhängnisvolle Wochenende, sein Verhältnis zu Michael Schumacher und warum Ayrton Senna in der Boxengasse schwebte.

SPORT1: Herr Wendlinger, Sie wurden 1989 Deutscher Formel-3-Meister mit einem Punkt Vorsprung vor Heinz-Harald Frentzen und Michael Schumacher. Danach wurden Sie mit den beiden anderen ins heute schon legendäre Mercedes-Junior-Team berufen. Können Sie uns mal kurz in diese Zeit mitnehmen?

Karl Wendlinger: Ich erinnere mich noch sehr gut. Das Jahr 1989 war für mich entscheidend. Dabei fing es gar nicht so gut an. Ich fuhr das zweite Jahr im Team von Helmut Marko. Beim ersten Training hatte ich gleich einen Crash, das mag der Doktor nicht so gern. Beim Rennen ging die Kupplung kaputt. Ich war der Meinung, sie hat nicht gehalten, der Doktor war der Meinung, ich hätte sie verbrannt. Es begann also nicht gut. Dass ich dann noch Meister werden konnte, damit konnte ich nicht rechnen.

SPORT1: Wie haben Sie erfahren, dass Sie ins Juniorteam aufgenommen werden?

Wendlinger: Ich habe meinem Vater in der Werkstatt geholfen, als meine Mutter aufgeregt zu mir kam und berichtete, da wäre jemand von Mercedes am Telefon. Es war der damalige Motorsportchef Jochen Neerpasch, der mich zum Gespräch nach Stuttgart bat. Ich fuhr dann im feinsten Zwirn dorthin und erfuhr, dass ich Teil des Juniorteams werde. Mit Förderung bis hin zur Formel 1. Auf der Heimfahrt nach Kufstein war mir allmählich klar, wie bedeutend dieser Tag für mich war. (Alles zur Formel 1)

SPORT1: Hat Herr Neerpasch Ihnen gesagt, wer die beiden anderen waren?

Wendlinger: Nein, das erfuhr ich erst am Flughafen von Zürich wenig später, als es zu den ersten Testfahrten nach Le Castellet ging. Plötzlich standen Heinz-Harald und Michael vor mir. Da war mir klar, wer die Drei vom Juniorteam waren. Erst da haben wir uns näher kennen gelernt.

SPORT1: Konnte man gleich erkennen, welche Rohdiamanten da sozusagen das "fliegende Klassenzimmer" bildeten?

Wendlinger: Nein, nicht auf Anhieb. Am Anfang ging es ja nur darum zu lernen und nichts kaputt zu machen. Wir haben viel zusammen gelacht und viel im Hotel gemacht. Beispielsweise Billard gespielt oder Karten. Man muss wissen: Der C9 und später der C11 waren grandiose Rennautos, die vom Kurvenspeed her der Formel 1 in nichts nachstanden. Ich brauchte am Anfang deshalb etwas länger, den gewaltigen Geschwindigkeitsunterschied aus der Formel 3 zu kompensieren. Aber ab dem dritten Test in Jerez war ich auf Augenhöhe mit den beiden. Als ich später das erste Mal im richtigen Formel-1-Auto fuhr, war ich dadurch an die Geschwindigkeiten schon gewöhnt. Was den Vergleich betrifft: Im ersten Jahr sind wir nie zusammen Rennen gefahren. Trotzdem hat jeder geschaut, was der andere bei Tests für Zeiten fährt. Deshalb hat man natürlich schon mitbekommen, welche Stärken Heinz-Harald und Michael haben.

SPORT1: Welche denn?

Wendlinger: Heinz-Harald ging alles leicht von der Hand, er hat sich gleich um nichts gepfiffen. Michael war auch extrem talentiert, aber ging alles systematischer an. Er war extrem ehrgeizig. Das merkte man schon beim zweiten Fitnesstest. Michael kam völlig durchtrainiert an, war plötzlich ein einziges Muskelpaket. Er muss vier Wochen nur trainiert haben. Er sprach auch von Anfang an viel mit den Ingenieuren, wollte alles wissen. Ich war eher der Ruhigere. Michaels Stärke auch später zu Ferrari-Zeiten: Er findet immer noch was, er kann sich immer noch steigern. Das war ein Teil seines großen Talents.

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SPORT1: 1991 gaben Sie und Michael Schumacher dann das Debüt in der Formel 1. Wie war das, plötzlich gegen Legenden wie Ayrton Senna oder Alain Prost fahren zu dürfen?

Wendlinger: Ich bin nur in einem Feld mit ihnen gefahren, nicht gegen sie. Aber was mich positiv überrascht hat: Als ich das erste Rennen in Suzuka fuhr, kamen beide, Ayrton Senna und Alain Prost zu mir, gaben mir die Hand und begrüßten mich. Es waren auch die beiden, die mich am meisten beeindruckt haben. Nicht nur wegen ihres schnellen Autofahrens, auch wegen ihrer Persönlichkeit. Wenn Senna dir im Fahrerlager entgegenkam, wirkte es, als schwebte er einen Meter über allen anderen. Ich habe aber trotzdem versucht, meinen eigenen Job zu machen. Trotzdem: Wenn der gelbe Helm hinter dir war, hast du gleich Platz gemacht. Beim berühmten Senna-Sieg 1993 im legendären Regenrennen in Donington habe ich ihn in der ersten Kurve sogar überholt. Zwei Kurven später hat er mich dann wieder außen überholt. Der Rest ist ja bekannt.

SPORT1: Hat Michael Schumacher sie begrüßt, als Sie ihr Debüt in Suzuka gaben? Er war ja schon einige Rennen länger dabei?

Wendlinger: Ja, er kam sogar schon am Donnerstag in die Leyton-House-Box und gratulierte mir. Es gibt sogar irgendwo noch Fotos davon. Handys gab es ja noch keine und auf dem Festnetz hat man damals nicht groß herumtelefoniert.

SPORT1: Wie kann man den Fahrstil von Michael Schumacher beschreiben?

Wendlinger: Er hat erst in der Formel 1 angefangen, seinen eigenen Stil zu kreieren. Er war permanent am Gas, um den Diffusor im Heck aus dem Auspuff heraus konstant anzublasen. Er spielte permanent mit dem Gaspedal und hat mit dem linken Fuß gebremst. So generierte er zusätzlichen Abtrieb, konnte extrem schnell in die Kurve reinfahren und auch früher Vollgas geben. Er war extrem schnell damit und ließ später alle Autos in diese Richtung entwickeln. Diese Autos waren im Heckbereich aber sehr instabil, reagierten unvorhersehbar, wenn man nicht so fahren konnte wie Michael. Seine Teamkollegen kamen damit nie richtig klar. Der Benetton von 1995 war wohl das extremste Auto. Michael erzählte mir einmal, dass er schon vor jeder Bodenwelle gegenlenken musste, um den Wagen proaktiv zu kontrollieren und nicht quer zu fahren. Eine andere Geschichte erzählte mir ein Ingenieur, der 1994 bei Ligier arbeitete. Michael ließ das Auto bei einer Testfahrt Ende des Jahres mit dem Renault-Motor, den er 1995 im Benetton fuhr, völlig umbauen. Der Ingenieur konnte nicht glauben, dass man ein solch extrem abgestimmtes Auto überhaupt auf der Straße halten konnte und Michael war auch noch superschnell damit. Mir fällt auch unser gemeinsames Rennen in Autopolis noch ein, dass wir mit dem C291 gewonnen haben. Michael fuhr einige Kurven im zweiten Gang, ich im Dritten. Er brauchte die Drehzahl, um den Grip zu spüren. Mir war das Auto im zweiten Gang aber zu unruhig, ich konnte mit der hohen Drehzahl nicht fahren.

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SPORT1: Jetzt fährt sein Sohn Mick in der Formel 1. Wie finden Sie seine Leistungen bisher?

Wendlinger: Super. Er hat in allen Nachwuchsklassen seine Leistung gebracht und Erfolg gehabt. Mit dem Haas-Team kann er viel Erfahrung sammeln. Er macht keine Fehler. Er darf nur nicht die Geduld verlieren, weil er mit dem Haas nicht vorne mitfahren kann. Er darf es dann nicht übertreiben. Besonders in Monaco muss es ihm mit diesem Auto und 1000 PS im Qualifying wie ein Ritt auf der Kanonenkugel vorkommen. (SERVICE: Formel-1-Rennkalender)

SPORT1: Ihr schwerer Unfall in Monaco 1994 hat verhindert, dass Sie ähnliche Erfolge feiern konnten wie beiden Juniorkollegen. Können Sie sich noch an den Unfall erinnern?

Wendlinger: Nein. Die letzte Erinnerung an das Monaco-Wochenende ist, dass ich am Mittwochabend ins Bett ging. Am Donnerstag war ja dann schon mein Unfall. An den kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich bin seitlich mit einer Geschwindigkeit von 177 km/h gegen einen Behälter geknallt und mit dem Kopf dagegen geschlagen. 19 Tage danach hat man mich dann noch in Nizza aus dem künstlichen Koma geholt. Ich hätte geredet, hat man mir gesagt. Aber daran kann ich mich nicht erinnern. Erst an einen Morgen im Krankenhaus von Innsbruck. Da bin ich aufgewacht und dachte: "Das sieht nach Krankenhaus aus. Wie komme ich hierher? Und wieso tut mein Knie so verdammt weh?" Dann hat mir meine Mutter erklärt, was passiert ist. Am 30. Juli bin ich entlassen worden. Danach habe ich sofort alles getan, um wieder ins Cockpit zu kommen. Die erste Privatfahrt mit dem PKW war wie in Zeitlupe. Hinter mir blinkten die Leute auf und hupten, weil ich den ganzen Verkehr aufhielt. Aber zu diesem Zeitpunkt war das mein Limit. Kurz danach drehte ich mit einem Porsche-Supercup-Auto Runden am Salzburgring. Am Ende des Tages waren die Zeiten dann so gut, dass ich mich in die Formel 1 wagen konnte.

SPORT1: Wie war die erste Formel-1-Fahrt nach dem Unfall?

Wendlinger: Das war in Le Castellet. Ich war zweieinhalb Sekunden langsamer als mein Teamkollege Heinz-Harald Frentzen. Aber es hat geregnet, deshalb wurden die Tests abgebrochen. Der nächste Test in Barcelona 14 Tage später musste abgebrochen werden, weil ich starke Kopfschmerzen bekam. Erst beim entscheidenden Test im Dezember, wo es darum ging, ob ich ein Cockpit für 1995 bekommen sollte, war ich wieder auf der Höhe. Es gab zwar immer noch Kopfschmerzen, aber der Maßstab war Heinz-Harald. Ich glaube, er fuhr nicht am Limit, deshalb war ich gar nicht mehr so weit weg von ihm. Aber ich war vor allen Dingen schneller als die anderen Bewerber. Deshalb erhielt ich wieder den Zuschlag.

SPORT1: Trotzdem hat es nicht geklappt...

Wendlinger: Ja, bei den Tests Anfang Februar in Barcelona konnte ich mich einfach nicht mehr konzentrieren. In den zwei Winter-Monaten musste irgendwas in meinem Kopf passiert sein, was ich mir nicht erklären konnte. Die Ärzte erklärten mir, ich könnte zwar ein normales Leben führen, aber die Kopfverletzungen waren wahrscheinlich zu stark, um den Belastungen der Formel 1 standzuhalten. Ich fuhr vier Rennen und merkte, dass ich zu langsam war. Das musste ich mir dann eingestehen.

SPORT1: Haben Sie damit gehadert?

Wendlinger: Nein, nie. Ich konnte es nicht ändern. Ich gönnte auch Michael und Heinz-Harald ihre Erfolge. Völlig neidlos. Ich fuhr danach noch Touren- und Sportwagenrennen und irgendwann merkte ich, dass es Zeit ist aufzuhören. Danach wurde ich Markenbotschafter und Instruktor bei AMG-Mercedes. Diese Tätigkeit fülle ich auch heute noch mit viel Freude aus. Und ich verfolge natürlich weiter den Motorsport, besonders die Formel 1. Mit Heinz-Harald habe ich immer noch einen sehr netten, freundschaftlichen Kontakt. Ebenso mit Gerhard Berger, der mich in meinen Nachwuchsserien extrem unterstützt hat.

SPORT1: Wie bewerten Sie den aktuellen WM-Kampf zwischen Max Verstappen und Lewis Hamilton?

Wendlinger: Max ist ein Riesentalent und ich bin mir sicher, dass er den WM-Titel irgendwann holen wird. Aber Lewis ist immer da, bringt immer seine Leistung und trotz der langen Zeit in der Formel 1 hat man nie das Gefühl, er ist müde.

SPORT1: Sebastian Vettel tritt dagegen auf der Stelle. Auch bei Aston Martin gelingt ihm bislang kein Befreiungsschlag. (Rennkalender der Formel 1 2021)

Wendlinger: Das Auto ist nicht da, wo er es erwartet hat. Aber das Team hat Geld, sie können sich mit guten Leuten verstärken und ich bin mir sicher, dass sie in Zukunft konkurrenzfähiger sein werden. Und dann kann er sich wieder mehr darauf konzentrieren, aus sich selbst das Beste rauszuholen.

SPORT1: Sie haben Vettel Anfang des Jahres stark kritisiert.

Wendlinger: Ich habe Anfang der Saison gesagt: Sebastian Vettel hat den Zenit überschritten. Da bin ich sehr beschimpft worden. Was habe ich gemeint? Er war vierfacher Weltmeister und daran wird er gemessen. Einen weiteren WM-Titel zu holen, wird sicher nicht einfach werden. Aber ein vierfacher Weltmeister muss sich nicht erklären. Das Auto ist im Moment wegen eines instabilen Hecks schwierig zu fahren. Das wird Sebastian noch einige Rennen beschäftigen. Wenn du in Monaco ein Auto mit einem instabilen Heck hast, ist das nie gut. In Monaco brauchst du ein Auto, dem du vertrauen kannst. Ich kenne das: Ich habe oft Autos gehabt, mit denen ich das ganze Jahr lang nicht zurecht gekommen bin. Und wenn du dich nicht sicher fühlst, kannst du nicht das Letzte aus einem Auto rausholen.

SPORT1: Was war bei Ihnen das Problem?

Wendlinger: Für mich war ein Auto, das auf der Hinterachse instabil war, speziell am Kurveneingang, immer schwierig zu fahren. Auch Alain Prost ist bekannt dafür gewesen. Der brauchte eine fixe Hinterachse und ist mit einem leichten Untersteuern perfekt umgegangen. Ayrton Senna dagegen hat gesagt: Das schnellste Auto ist das, das beim Einlenken übersteuert, denn dann bin ich schneller am Gas. Aber das musstest Du erstmal können.