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"Julians Freistellung sieht nach einer Panikaktion aus"

"Julians Freistellung sieht nach einer Panikaktion aus"

Julian Nagelsmann ist als Trainer des FC Bayern nach rund 20 Monaten schon wieder Geschichte. Ab sofort hat Thomas Tuchel beim Rekordmeister das sportliche Sagen. Am Dienstag wird der 49-Jährige das erste Mal mit seinem neuen Team auf dem Trainingsplatz stehen.

Ernst Tanner kennt Nagelsmann aus dessen Zeit als B-Jugendlicher bei 1860 München. Bei den Löwen war Tanner der Jugendtrainer von Nagelsmann. „Wir kennen und vertrauen uns seit 20 Jahren“, sagt Tanner.

Der 56-Jährige, der zwischen 2003 und 2011 in Hoffenheim als Leiter der Nachwuchabteilung, Sportlicher Leiter und Geschäftsführer tätig war, ist seit 2018 Sportdirektor bei MLS-Klub Philadelphia Union. Im SPORT1-Interview spricht er über das Bayern-Beben und Nagelsmann.

SPORT1: Herr Tanner, wie haben Sie die überraschende Entlassung von Julian Nagelsmann wahrgenommen?

Ernst Tanner: Ich kann ja mittlerweile in unserem Geschäft schon ein bisschen zwischen den Zeilen lesen und wenn ich höre, dass Julian in letzter Zeit neben den üblichen Platzhirschen auch noch mit artengeschützten Tieren (Maulwürfen, Anm. d. R.) zu kämpfen hatte, dann läuten bei mir die Alarmglocken. So gesehen kam das Aus für mich nicht sonderlich überraschend.

Nagelsmann-Aus? „Sieht nach einer ziemlichen Panikaktion aus“

SPORT1: Es wurde auch die Art und Weise der Trennung kritisiert. Nagelsmann musste es aus den Medien erfahren.

Tanner: Nicht schön und noch weniger professionell, aber leider im Profigeschäft immer wiederkehrend, würde ich sagen.

SPORT1: Was werfen Sie den Bayern-Bossen vor? Präsident Herbert Hainer hatte sich vergangene Woche noch vor Nagelsmann gestellt.

Tanner: Ich kann den Bayern-Bossen nichts vorwerfen, da sie ihre Entscheidungen sicher nach bestem Wissen und Gewissen und im Sinne ihres Klubs treffen. Jedoch zeigt dieser Fall, dass offensichtlich auch die Kommunikation in der Führungsetage nicht die beste ist. Zumindest von außen betrachtet, sieht die Freistellung Julians nach einer ziemlichen Panikaktion aus.

SPORT1: Nagelsmann sei für den FC Bayern ein „Langzeitprojekt“, hatte Hainer erklärt. Später sagte er, dass die knappe Niederlage in Leverkusen alles verändert habe. Glauben Sie das?

Tanner: Das ist natürlich ein krasser Widerspruch. Langzeitprojekte werden nicht durch Einzelergebnisse beendet, sondern wenn Entwicklungen und Trends erkennbar werden, die für den Klub existentiell bedrohlich sind. Die Interviews vom Wochenende mit den Nationalspielern haben auch gezeigt, dass das Verhältnis zu vielen und vor allem wichtigen Spielern offenbar intakt ist. Ob das Glas halb voll oder halb leer ist, kann man jetzt auch sehen, wie man will.

Tanner: Kündigung für Nagelsmann kein Beinbruch

SPORT1: Für die Bosse gab es zu große Leistungsschwankungen…

Tanner: Aber die Bayern sind in dieser Saison immer noch mit entsprechenden Chancen in allen Wettbewerben vertreten, mussten aber im vergangenen Sommer wichtige Spieler wie Lewandowski und Süle ersetzen. Dann kam im Winter noch der Unfall von Neuer dazu. Zwei Drittel der Mannschaft hatten zudem noch eine WM zu spielen. Das sind die nackten Fakten und dass eine Saison vor diesem Hintergrund nicht ganz reibungslos ablaufen würde, war auch klar.

SPORT1: Es ist die erste Entlassung in der noch jungen Trainerkarriere von Nagelsmann. Wird ihm das jetzt einen Knacks geben?

Tanner: Das erste Mal ist immer besonders, vor allem wenn es auf diese Art und Weise passiert. Julian ist ein Entwickler, dafür braucht er etwas Zeit und vor allem die entsprechende Rückendeckung. Die ist zweifelsohne zuletzt nicht mehr vorhanden gewesen und die Enttäuschung daher für ihn umso größer. Er ist aber selbstbewusst und hat Persönlichkeit genug, um das zu verdauen. So sehr es schmerzt, aber eine Entlassung vor allem vor dem beschriebenen Hintergrund ist für ihn kein Beinbruch und er wird daraus seine Lehren ziehen.

SPORT1: Wo sehen Sie die Zukunft von Nagelsmann?

Tanner: Der Trainermarkt ist gerade im Topsegment sehr eng und deutsche Trainer haben einen unglaublichen Stellenwert im Ausland. Julian braucht sich von daher über seinen nächsten Job keine Sorgen zu machen. In Deutschland hat er jetzt trotz seines noch so jungen Alters alles erlebt und ich weiß nicht inwiefern ihn das noch reizt.

„England der nächste logische Schritt“

SPORT1: Real Madrid ging schon einmal auf Tuchfühlung zu Nagelsmann. Wäre das der nächste, logische Schritt?

Tanner: Real wird sicher wieder eine Option, aber in sprachlicher Hinsicht und von seiner Interessenslage sehe ich England eher als nächsten und logischen Schritt. Ob das jetzt in aller Hast und Eile Tottenham sein muss, wage ich mal zu bezweifeln.

SPORT1: Was würden Sie Nagelsmann raten?

Tanner: Wir kennen und vertrauen uns seit 20 Jahren. Ich würde ihm raten, erstmal eine Auszeit zu nehmen, zu reflektieren und keinesfalls vorschnell ins nächste Haifischbecken zu springen. Die Zeit braucht er auch, um sich zu regenerieren und gut auf die nächste Station vorzubereiten.

SPORT1: Kam der FC Bayern am Ende doch ein, zwei Jahre zu früh für Julian?

Tanner: Das ist hypothetisch, zumal sich die Bayern ja auch etwas gedacht haben, als sie ihn mit hoher Ablöse verpflichtet haben. Julian hat mehr als ein Jahrzehnt Trainererfahrung und, bevor er zu den Bayern kam, schon fünf Jahre auf Topniveau in der Bundesliga gearbeitet. Selbst international hatte er in der Champions League schon gute Erfolge. Jung zu sein, bedeutet nicht automatisch unerfahren zu sein. (NEWS: Alle aktuellen Infos zur Bundesliga)