Kommentar: "Bild" und "RTL" entgleisen in Solingen

Polizisten am Eingang zu jenem Wohnhaus in Solingen, in dem fünf Kinder tot gefunden wurden. (Bild: REUTERS/Thilo Schmuelgen)
Polizisten am Eingang zu jenem Wohnhaus in Solingen, in dem fünf Kinder tot gefunden wurden. (Bild: REUTERS/Thilo Schmuelgen)

Diese Medien zeigen sich auf fiese Art: Über den Tod von Kindern in Solingen fällt man her – und meint irrigerweise, das habe mit Journalismus zu tun.

Ein Kommentar von Jan Rübel

Als ich den Satz las, „Sie deckte den Frühstückstisch, dann erstickte sie ihre Kinder“, wusste ich, dass ich besser nicht weiterlese. Erstens will man nicht alles wissen, und zweitens fühlte ich mich wie am Eingang zu einem Bereich, zu dem ich nicht gehöre – immerhin bin ich kein polizeilicher Ermittler. Die müssen sich von Berufs wegen sowas antun. Doch was die „Bild“-Zeitung schrieb, offenbart: Bei „Bild“ arbeiten nicht nur Hobbypolizisten. Sie gehen nicht nur dorthin, wo es weh tut. Sie vergrößern auch noch den Schmerz der Opfer, indem sie ein Brennglas draufhalten. Es ist zum Heulen.

Was ist passiert? Etwas Schlimmes in Solingen. Eine Frau steht unter dem Verdacht, fünf ihrer sechs Kinder erstickt zu haben; sie warf sich dann vor einen Zug, überlebte aber. Eine seelische Tragödie, für die es schwer fällt, Worte zu finden – und die man vielleicht auch nicht braucht. Es ist ja nun an Experten wie Psychologen, der Frau nun aufzuhelfen.

„Bild“ und „RTL“ jedenfalls traten nach, auch beim überlebenden Jungen. Denn sie fielen über die Überlebenden her.

Ein Fall für den Medien-Notdienst

Tatsächlich führten beide Medien Interviews mit einem zwölfjährigen Freund des Jungen. Dieser, gerade elf Jahre alt, hatte sich per WhatsApp bei ihm gemeldet, nachdem er vom Tod seiner Geschwister und vom Suizidversuch seiner Mutter erfahren hatte. Sie missbrauchten also ein Kind, um an ein anderes heranzukommen. Ein Fall für den Kindernotdienst: Wäre die „Bild“-Redaktion ein Vater oder eine Mutter, müsste man ihr Kind in Obhut nehmen.

Denn der Junge wird sich nicht an seinen Freund gewandt haben, um für den Rest seines Lebens seine WhatsApp-Nachricht im Netz lesen zu können. Und vom Freund ist nicht zu erwarten, die Tragweite von Gesprächen mit der Presse gänzlich zu kennen. Kinder sind zu schützen, und nicht auszunützen. All dies war „Bild“ und „RTL“ egal.

„Bild“ zeigte anfangs auch Fotos von der Mutter, vollkommen kenntlich, damit man sich ein Bild von ihr machen und sie gegebenenfalls, in ein paar Jahren, vielleicht auf der Straße wiedererkennen kann. Solch einen Schnack auf dem Bürgersteig über „Von der Traumhochzeit zum Albtraum“, wie eine der vielen Schlagzeilen hieß, wird sie sicherlich gern halten, nicht wahr?

Bei „Bild“ schämt man sich nun wenigstens ein bisschen. Der Artikel mit den WhatsApp-Nachrichten wurde mittlerweile vom Netz genommen; verewigt ist er dennoch. Und bei „RTL“ rechtfertigt man sich mit dem „berechtigten öffentlichen Interesse“, wobei natürlich nicht konkretisiert wird, worin dieses angeblich besteht. Will man Details erfahren, um eventuell doch nicht selbst zu Tötungen zu schreiten? Oder gar etwaige Pläne auf Erfahrungswerte hin untersuchen?

War das etwa Chronistenpflicht?

Das öffentliche Interesse ist eine Verwechslung. Es gibt öffentliches Entsetzen, öffentliche Anteilnahme – aber kein öffentliches Recht auf fiesen Voyeurismus. Nur den bedienen „Bild“ und „RTL“.

Daher war die Berichterstattung dieser Medien auch kein schlechter Journalismus, es war überhaupt kein Journalismus. Witwen- oder Kinderschütteln habe ich auf der Journalistenschule nicht gelernt, das stand nicht im Lehrplan.

Den Verantwortlichen wünsche ich übrigens ein schlechtes Gewissen, das zumindest für ein paar schlaflose Nächte reichen sollte – bis die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird.

Weitere Hintergründe zu den Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft in Solingen kann man hier nachlesen

Anmerkung der Redaktion: Suizidgedanken sind häufig eine Folge psychischer Erkrankungen. Letztere können mit professioneller Hilfe gelindert und sogar geheilt werden. Wer Hilfe sucht, auch als Angehöriger, findet sie etwa bei der Telefonseelsorge unter der Rufnummer 0800 – 1110111 und 0800 – 1110222. Die Berater sind rund um die Uhr erreichbar, jeder Anruf ist anonym und kostenlos.