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Das Café der Überlebenden

The site of the former Nazi German concentration and extermination camp Auschwitz is pictured during a ceremony marking the 75th anniversary of the liberation of the camp and International Holocaust Victims Remembrance Day, in Oswiecim, Poland, January 27, 2020. REUTERS/Kacper Pempel
Das Gelände des Vernichtungslagers Auschwitz (Bild: REUTERS/Kacper Pempel)

Jahrzehnte nach der Befreiung des Vernichtungslagers in Auschwitz kommen Überlebende zusammen, auf ein Stück Kuchen und einen Schluck Kaffee. Sie haben viel zu erzählen.

Vor sieben Jahren schrieb ich ein Porträt über ein Café. Es war anders als andere, denn es öffnete seine Türen nur für Überlebende der Schoa. Ein Treffpunkt, organisiert von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), und ein Ort zum Hinhören.

Ich weiß nicht, wer von den damaligen Gästen heute noch lebt, einige von ihnen waren damals schon über neunzig. Ich wünschte, dass ihre Erinnerungen und Gedanken zur Gegenwart viele Ohren finden. Im Grunde, das dachte ich in den vergangenen sieben Jahren immer wieder, sollte jede Gesetzesinitiative in Deutschland den Gästen dieses Treffpunkts vorgestellt werden, denn an Lebenserfahrung mangelte es ihnen nicht.

Da waren zum Beispiel Nora O. und Lilly M., sie tauschten zuweilen Rezepte aus. “Auf dem Transport haben wir auch ständig über Kuchenrezepte geredet, so einen Hunger hatten wir”, fiel Nora O., 88, ein. “Wir auch”, sagte Lilly M. Beide stammten aus einem kleinen Dorf in Ostpolen, “in Birkenau habe ich dich dann aber gar nicht gesehen”, sagte Nora O., sie hielt eine kleine Gabel hoch. “Dabei standen wir beide im Stau.” Sie hatten schon die Haare geschoren, warteten vor der Gaskammer. Doch die war voll, es ging wieder zurück in die Baracken. “In Bergen-Belsen erst haben wir uns getroffen.” Eine Tasse klirrte. Von rechts beugte sich eine Dame vor, die Wangen gerötet: “Könnten Sie mal anderes bereden als Kuchenrezepte?”

Die Gäste dieses Cafés erzählten nicht nur von den Lagern. Viele von ihnen verfolgten das politische Geschehen in Deutschland, schüttelten den Kopf über die NPD; über die AfD sprachen wir 2013 noch nicht. Sie strahlten eine Stärke aus, die schwer zu beschreiben ist. Und eine Schwäche. Das Erlebte, wofür Auschwitz ein Codewort ist, war dann doch immer da.

Nie mehr auf einer Liste stehen

Da war ein Mann mit Kahlkopf, der oft hastig an der Tasse nippte und zur Garderobe schaute. Als suchte er etwas. Seinen Namen behielt dieser kleine, kräftige Mann mit kleinen, blitzenden Augen für sich. “Interessiert doch nicht”, sagte er, mochte kaum darüber reden, dass er nicht polizeilich gemeldet war, seit Jahrzehnten. Dass ihn Erspartes schützte, aber keine Krankenversicherung. Die Leute im Café kannten nur seine Postfachadresse. Auf einer Liste wollte er niemals mehr stehen.

Wohlhabend waren dort nur wenige. 30 Prozent der Cafégäste lebten von Sozialhilfe oder Grundsicherung, die Hälfte von ihnen erhielt weniger als 1000 Euro Rente. Beantragen, bitten, fiel ihnen schwer, es ging um ihre Unabhängigkeit. Zwei Sozialarbeiter und zwei Psychotherapeuten saßen im „Treffpunkt“, alle vier Kinder von Überlebenden. Sie vermittelten Sozialdienste, klärten die Gäste über ihre Rechte auf. Und hörten zu.

Siegfried A. war oft zum Scherzen aufgelegt. Wie jedes Mal hatte er zum Besuch des “Treffpunkt” sein weißes Hemd gebügelt, den waldgrünen Einreiher aus der Plastikschutzhülle geholt und sich eine Krawatte doppelt geknotet. Er schob sein Kinn vor und erzählte erstmal einen Witz: “Schmuel, was hast du im Radiogebäude gemacht?” “Mi-mich u-um die Sch-sch-schtelle des A-Ansagers beworben”. “Und, hast du sie bekommen?“ “Nein, d-das s-sind a-alles A-a-antisemiten!”

Siegfried A. erzählte gern Witze, besonders, wenn es Ärger gab, danach fühlte er sich besser. “Heute Vormittag habe ich mit meinem Nachbarn geplaudert. Der erzählte von seiner Bandscheiben-OP und sagte: ‘Ich wusste doch immer, dass die jüdischen Ärzte die besten sind.’” Da passe er dann auf, “warum sagt er mir das? Ist das jetzt antisemitisch, oder spinne ich?”

Elf Muttersprachen ließen sich hier hören, aber gesprochen wurde zumeist Deutsch. “Hier muss ich nichts erklären”, sagte Siegfried A., “hier wissen alle Bescheid”.

“Alle wussten es”

Überhaupt Deutschland. Ein deutsches Auto habe sie nie gekauft, sagte Manja B. “Das geht nicht. Ich lebe gern hier. Aber ganz gemein kann ich mich nicht machen mit dem Land.” Ihr Blick ruhte auf einem kleinen Kaffeelöffel auf dem Tisch, aber der Kopf wog hin und her. Damals sei etwas passiert, sagte sie, womit niemand fertig wird. “Auch die Deutschen nicht.” Die “Displaced Persons” von einst lebten wie mit gepacktem Koffer, auch wenn er längst in der Ecke stand. Manja B., in Deutschland seit 1945, hatte die kanadische und die israelische Staatsbürgerschaft. Die deutsche würde sie nie beantragen. “Hier bin ich immer gut behandelt worden, bin nie als Jüdin beschimpft worden. Aber enger kann ich nicht.” Beim Transport von Auschwitz nach Bergen-Belsen im offenen Waggon hatten alle sie gesehen. “Alle wussten es.”

Was viele Gäste des Cafés auch nicht von Deutschland haben wollten, war Geld. “Emily, warte mal, was ist mit dem Ghettorenten-Antrag?”, rief eine Sozialarbeiterin der Dame mit Glockenhut nach. Langsam schritt Emily P. strengen Blicks übers Parkett, das Haupt erhoben, eine Prozession. Niemand sollte merken, dass ihre Augen nur noch graue Schemen ausmachten. “Danke, kein Bedarf”, beschied die 92-Jährige. Anspruch auf Entschädigung hatte sie nie gestellt.

Die Gäste waren leicht reizbar, zuweilen angespannt. Das Klirren eines Glascontainers auf der Straße etwa konnte viele erschrecken.

Und dann war da das Ehepaar F. Sanft half Max seiner Alice aus dem Mantel. Er erzählte, wie sie viele Jahre lang in Schulen gegangen seien, geschildert hätten, wie sie sich am ersten Tag im KZ kennen gelernt und ineinander verliebt hatten. Wie sie am Ende die Todesmärsche weg von Auschwitz überlebten und er sie über das Rote Kreuz in einem Sanatorium in Skandinavien nach dem Krieg wiederfand. “Rechne nicht damit, dass ich mich scheiden lasse”, sagte er ihr bei der Hochzeit. Seit Jahren erhielten sie von keiner Schule mehr eine Einladung.

Manchmal verreist der ganze “Treffpunkt”, dann mieten die Sozialarbeiter einen Bus. Einmal ging es nach Berlin, da besichtigten sie die Villa, wo die “Wannsee-Konferenz“ 1942 zur Detailplanung der “Endlösung der Judenfrage” getagt hatte. Als die Reisegesellschaft längst wieder eingestiegen war, wartete man auf eine Caféseniorin – sie musste in der Villa noch aufs Klo. Zurück im Bus, meinte sie: “Es war mir ein Vergnügen, hier zu scheißen.”