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Kommentar: Löw bleibt, die Glaubwürdigkeit geht

Joachim Löw macht von seiner Narrenfreiheit, die ihm die DFB-Spitze auch nach dem WM-Debakel gewährt hat, Gebrauch und bleibt Bundestrainer. Nur sechs Tage nach dem WM-Aus torpediert DFB-Boss Grindel sein Vorhaben von “tiefgreifenden Veränderungen”. Das ist absurd.

Ein Kommentar von Yahoo-Sport-Redakteur Tommy Gaber

Joachim Löw will seinen Vertrag beim DFB bis 2022 erfüllen.
Joachim Löw will seinen Vertrag beim DFB bis 2022 erfüllen.

Der erste Satz von ARD-Kommentator Tom Bartels vor dem Achtelfinalspiel zwischen Schweden und der Schweiz war: “Schade, schade, hier hätte heute die deutsche Mannschaft spielen können.” Hätte, hätte Fahrradkette. Bartels war sich nicht zu schade, Nostalgie noch einmal dick aufzutragen. Das peinliche WM-Aus der DFB-Elf ist inzwischen eine Woche her; seitdem die deutsche Mannschaft nicht mehr mitspielen darf, wird richtig gut gekickt bei dieser WM. Die meisten Achtelfinals waren hochattraktiv, da hätte das müde Ballgeschiebe von Özil und Co. nur gestört.

Derjenige, der das zu verantworten hat, ist Joachim Löw. Nicht allein, aber der Bundestrainer trägt die Hauptschuld an der historischen WM-Schmach. Er hat als Lokführer das große Projekt Titelverteidigung komplett an die Wand gefahren. Er hat den hochtalentierten Leroy Sane ohne Not geopfert und seinen Spielern über Wochen nicht den Schlendrian austreiben können. Er hat (in bemerkenswerter Zusammenarbeit mit Teammanger Bierhoff und DFB-Präsident Grindel) die Tragweite der Erdogan-Affäre fehlinterpretiert und die Stärke der Vorrundengegner falsch eingeschätzt. Er hat, vor allem gegen Mexiko, Fehler im In-game-Coaching gemacht und hinterher zugeben müssen, mit der Taktik der Mexikaner nicht gerechnet zu haben.

Grindel rudert zurück

Diese Mängelliste ist seit letzten Mittwoch vielfach aufgezeichnet und von den Verantwortlichen zum Teil sogar bestätigt worden. Unisono wurde am Tag danach von dringend nötigen “tiefgreifenden Veränderungen” gesprochen. Grindel forderte zeitnah (“in der kommenden Woche”) eine Analyse des Scheiterns sowie eine Zukunftsvision von der sportlichen Leitung ein. So weit, so gut.

Sechs Tage später wollte Grindel davon plötzlich nichts mehr wissen. “Wenige Tage nach einem solchen Turnier-Aus eine umfassende Analyse einzufordern, wäre verfrüht. Der Bundestrainer und Oliver Bierhoff sollen sich jetzt die notwendige Zeit nehmen, um das Turnier sportlich aufzuarbeiten”, sagte er.

Mehr Führungsschwäche geht nicht. Und alles nur, um Joachim Löw ja nicht zu vergraulen. Der Bundestrainer durfte selbst über sein Schicksal entscheiden, Grindel hatte ihm einen Blankoscheck unmittelbar nach dem WM-Debakel ausgestellt. Und Löw hat zugeschlagen. Er macht weiter. So sehen also die “tiefgreifenden Veränderungen” DFB aus. Es wird (erstmal) nichts verändert.

7:1 übertüncht vieles

Bei aller Wertschätzung seiner Verdienste um den deutschen Fußball, aber Löws Zeit als Bundestrainer ist abgelaufen. Er wurde gefeiert als “Revoluzzer” des deutschen Fußballs, als derjenige, der den Rumpelfüßlern einen vernünftigen, erfrischenden Spielstil beibringt. Alles schön und gut. Aber mal ehrlich: Wann hat Deutschland bei einem großen Turnier denn spielerisch überzeugt, die WM 2010 mit den Knallersiegen gegen England und Argentinien mal ausgenommen?

2008 konnte die DFB-Elf im letzten Gruppenspiel gegen Österreich dank eines Ballack-Krachers das Vorrundenaus gerade so vermeiden. Im Finale gegen Spanien war man chancenlos, ebenso im WM-Halbfinale 2010 gegen den selben Gegner.

Bei der EM 2012 stand das Weiterkommen im dritten Vorrundenspiel gegen Dänemark erneut Spitz auf Knopf. Im Halbfinale gegen Italien wählte Löw die falsche Taktik und die falsche Aufstellung. 2014, beim großen Triumph in Brasilien, gab es gruselige Spiele gegen Ghana und Algerien. Vieles wurde vom grandiosen 7:1 gegen den Gastgeber übertüncht. Und 2016 war Deutschland im Halbfinale gegen Frankreich abermals chancenlos.

Wenn’s drauf ankam, hat es nicht funktioniert

Seit dem WM-Halbfinale 2006 schoss die DFB-Elf in ihrem jeweils letzten Turnierspiel in fünf von sieben Fällen kein Tor. Außer Götzes goldenem Tor 2014 gelang nur noch Mesut Özil ein Treffer – per Elfmeter im EM-Halbfinale 2012. Wenn es wirklich drauf ankam, hat es in der Regel nicht funktioniert.

Löw ist Weltmeister-Trainer, das ist eine tolle Errungenschaft und das kann ihm niemand mehr nehmen. Aber er hat den Zeitpunkt verpasst, das Feld zu räumen. Und die DFB-Spitze hat es verpasst, die enge, emotionale Verbindung zu Löw zu kappen. Der DFB ist zu sehr vernarrt in Löw, um den nötigen personellen Schnitt anzugehen. So sähen nämlich “tiefgreifende Veränderungen” aus.