Verspätete Rache für einen deutschen WM-Skandal?

Bei der WM 1982 sicherten sich Deutschland und Österreich auf fragwürdige Weise das K.o.-Runden-Ticket. Droht nun eine neue Verschwörung zu Lasten des DFB-Teams?

Hart umkämpftes Duell: Leon Goretzka im Zweikampf mit Spaniens Nico Williams. (Bild: REUTERS/Albert Gea)
Hart umkämpftes Duell: Leon Goretzka im Zweikampf mit Spaniens Nico Williams. (Bild: REUTERS/Albert Gea)

Es ist einfach eine zu denkwürdige Geschichte, um sie ruhen zu lassen - auch 40 Jahre danach.

„Die Welt steht Kopf“, schreibt die spanische Marca über die WM-Entscheidungsspiele in der deutschen Gruppe am Donnerstagabend: „Die einst unbesiegbare Mannschaft, jetzt bittet sie um Hilfe. Kurios. [...] Sie fleht, dass geliefert wird. Dabei kann sie selbst kein reines Gewissen haben.“

Das Drama-Level ist hoch dafür, dass letztlich etwas sehr Banales passiert ist: Antonio Rüdiger, Lukas Klostermann und David Raum haben nach dem 1:1 gegen Spanien mit ihren spanischen Vereinskollegen bei Real Madrid (Dani Carvajal) und RB Leipzig (Dani Olmo) gesprochen. Und ihnen im Wesentlichen gesagt: Nun siegt mal schön.

Eine selbstverständliche Erwartung, an sich: Spanien ist vor dem Gruppenfinale gegen Japan und dem deutschen Parallelduell gegen Costa Rica selbst noch nicht fürs Achtelfinale qualifiziert und kann im Fall einer Niederlage sogar noch ausscheiden.

Aber es gibt halt doch kleine Ansatzpunkte, die eine verführerisch verschwörerische Idee am Leben erhalten: dass Spanien trotz allem versucht sein könnte, nicht auf Sieg zu spielen - und eine Art verspäteter Rache für die „Schande von Gijon“ bei der WM 1982 zu nehmen.

Schande von Gijon: Ein legendär mieses Spiel

Wer die Geschichte nicht kennt oder nur noch das Schlagwort: Bei der Weltmeisterschaft in Spanien 1982 war die deutsche Mannschaft um Kapitän Karl-Heinz Rummenigge nach einer 1:2-Auftaktniederlage gegen Algerien vom frühzeitigen Aus in der Gruppenphase bedroht und war als Dritter in die abschließende Partie gegen Österreich gegangen.

Die brisante Situation, die sich im Stadion El Molijon entwickelte: Nach dem 1:0-Führungstreffer durch Horst Hrubesch in der 11. Minute wussten beide Teams, dass sie weiter sein würden, wenn es dabei bleiben würde - die letzten Gruppenspiele waren damals noch nicht zeitgleich angepfiffen worden.

Die Konsequenz: Beide Seiten stellten de facto alle Offensivbemühungen ein und schaukelten das Win-Win-Geschäft über die Zeit. Deutschland und Österreich waren weiter, Algerien war raus.

Paul Breitner sah es lakonisch

Die algerischen Fans vor Ort wedelten wütend mit Geldscheinen, empört war auch ARD-Kommentator Eberhard Stanjek, der das Wort “Schande“ prägte - der alternative Name „Nichtangriffspakt von Gijon“ beruht auf einer Aussage des deutschen Abwehrchefs Karlheinz Förster, der ehrlich aussprach, was passiert war.

Bis heute ist unter den Beteiligten umstritten, wie schändlich das Verhalten der Teams wirklich war und wie bewusst es beide darauf angelegt hatten. Der Österreicher Walter „Schoko“ Schachner berichtete von einer offenen Absprache einzelner Spieler in der Halbzeitpause, von der er aber erst hinterher erfahren hätte. Kapitän Rummenigge gestand in seinem WM-Tagebuch: „In der 2. Halbzeit, als wir merkten, dass die Österreicher das Ergebnis halten wollten, haben wir uns dem Ballgeschiebe angepasst, weil‘s auch uns in den Kram passte.“

Lakonisch ordnete Bayern-Kollege Paul Breitner Jahrzehnte später ein: Es sei doch normal, dass Fußballteams Ergebnisse verwalten würden. Hier habe man halt nur recht früh damit angefangen. Legendär schuldunbewusst auch der Satz von ÖFB-Legende Hans Krankl: „Ich weiß nicht, was man will. Wir sind qualifiziert.“

Ein algerischer Protest gegen die Wertung des Spiels wurde von der FIFA abgeschmettert, die DFB-Auswahl des damaligen Bundestrainers Jupp Derwall stieß am Ende bis ins Finale vor, das mit 1:3 gegen Italien um den 2020 verstorbenen Paolo Rossi verloren ging.

Österreich-Funktionär trat sogar noch rassistisch nach

So schulterzuckend wurde das Gijon-Spiel logischerweise nicht überall registriert, es gab heftige Reaktionen, eine spanische Zeitung verglich das deutsch-österreichische Verhalten gar mit „El Anschluss“, der Eingliederung Österreichs in Nazi-Deutschland 1938 - die Erinnerung an den 2. Weltkrieg war damals noch frischer. Selbst in Österreich wurde damit gespielt: „Das war die größte Verbrüderung zwischen Deutschland und Österreich seit März 1938“, kommentierte sarkastisch Reporter Edi Finger.

Der Ärger vergrößerte sich, als der österreichische Delegationsleiter Hans Tschak den Unmut der Algerier auch noch mit rassistischer Arroganz weit unter Bademantel-Niveau beantwortete („Wenn jetzt hier 10.000 Wüstensöhne im Stadion einen Skandal entfachen wollen, zeigt das doch nur, dass die zu wenig Schulen haben. Da kommt so ein Scheich aus einer Oase, darf nach 300 Jahren mal WM-Luft schnuppern und glaubt, jetzt die Klappe aufreißen zu können.“).

Spanien winkt bei Niederlage - theoretisch - eine attraktivere Konstellation

Dass in Spanien und Deutschland nun auf diesen mythischen Skandal zurückgekommen wird: einerseits logisch, aber wie realistisch ist die Idee wirklich?

Der Grundgedanke, der sie befeuert: Spanien könnte versucht sein, Gruppenzweiter statt -erster zu werden, um ein mögliches Viertelfinale mit Brasilien zu vermeiden. Dazu müsste Spanien gegen Japan verlieren und gleichzeitig darauf spekulieren, dass Deutschland nicht hoch genug gewinnt, um die Acht-Tore-Differenz aufzuholen. Ob eine kleine, theoretische Konstellationsverbesserung zwei Runden weiter den Spaniern so viel wert sein könnte, sich vor den Augen der (Fußball-)Welt auf ein mieses Spiel einzulassen? Und letztlich glauben auch die Autoren der Marca nicht dran und gehen fest davon aus: „Spanien wird auf Sieg spielen und alles tun, um das K.o.-Runden-Ticket zu sichern.“

Die Verschwörungstheorie einer spanischen Rache für die deutsch-österreichische Schande auf spanischem Boden: Sie ist sehr theoretisch.

Im Video: Spanien könnte auf Platz zwei pokern: Wiederholt sich Gijon-Schande?