Der Außenminister in kurzen Hosen

Nationalspieler seien Außenminister in kurzen Hosen, hieß es einst über die deutschen Fußball-Weltmeister von 1954.

Leon Goretzka findet, dass das noch heute gilt, wie er erst kürzlich festhielt: "Den Spruch finde ich sehr gut. Wir Spieler sollten die große Aufmerksamkeit nutzen, um für solche Themen zu sensibilisieren."

Mit "solchen Themen" war damals noch nicht das derzeit alles beherrschende Thema Corona gemeint.

Der Mittelfeldspieler des FC Bayern München bezog seinerzeit Position gegen den ihm unheimlichen Erfolg der rechtsnationalen AfD ("Man fasst sich an den Kopf und fragt sich, wie das passieren kann") - und wurde deutlicher als viele Fußballerkollegen, die mit öffentlichen Meinungsäußerungen zu politischen Themen eher vorsichtig sind.

Bayern-Duo ruft #WeKickCorona ins Leben

Goretzka hält das anders. Der Anspruch des 25-Jährigen ist, auch bei gesellschaftlichen Fragen voranzugehen - auch jetzt, wo die Folgen der Virus-Pandemie alles überlagern.

Gemeinsam mit FCB-Teamkollege Joshua Kimmich hat Goretzka die Kampagne #WeKickCorona ins Leben gerufen.

"Wir wollen in erster Linie nicht im Fußballbereich helfen, sondern konzentrieren uns auf karitative und soziale Projekte. Wir wollen denjenigen Menschen helfen, die in ihrer Hilfe eingeschränkt sind", berichtete Goretzka am Sonntag im CHECK24 Doppelpass auf SPORT1.

Über 3,6 Millionen Euro sind bislang zusammengekommen. 30 Projekte wurden bereits finanziell unterstützt, 40 weitere ausgewählt. "Corona schlagen wir nur im Team", lautet Goretzkas Botschaft.

Neururer: "Hat einen Touch mehr als die meisten anderen"

Wie groß Goretzkas Engagement in Wort und Tat ist, beeindruckt und verblüfft viele - weniger jedoch die, die ihn schon länger kennen.

"Er ist ein Mensch, der viel Wert auf Bildung gelegt hat und schon immer soziales Verhalten gezeigt hat", sagt Peter Neururer, früher Goretzkas Trainer beim VfL Bochum, zu SPORT1 über seinen einstigen Schützling: "Er hat in allen Bereichen einen Touch mehr als die meisten anderen Spieler."

Goretzka sei "bodenständig, er kennt seine Herkunft, hat sich niemals als was Besseres gefühlt", berichtet Neururer, der bis heute mit Goretzka in Telefon- und SMS-Kontakt steht.

Auch sportlich konnte sich Neururer damals auf Goretzka verlassen: "Er war schon als junger Spieler in der Lage auch Führungsrollen zu übernehmen und hat 2013/14 in dieser Situation wesentlich dazu beigetragen, dass wir nicht abgestiegen sind."

Nicht umsonst widmeten die Bochumer Goretzka seinerzeit ein hoch emotionales Abschieds-Statement, hielten fest, er sei nicht nur "ein Spieler mit riesigem Talent, sondern auch ein Mensch mit großem Herz". Goretzka war damals, als er zum FC Schalke 04 weiterzog, gerade 18 Jahre alt.

Ist Goretzka also der etwas andere Profi? "Jeder von uns hat individuelle Talente", sagt der Mittelfeld-Allrounder im Gespräch mit SPORT1. "Wenn Sie meine Freunde fragen würden, würden denen wahrscheinlich genauso viele Dinge einfallen, die ich weniger gut kann. Umso mehr freue ich mich, dass wir mit WeKickCorona eine tolle Aktion starten konnten."

Rückendeckung für Sané und Gündogan

Mit den Jahren hat Goretzka weiter an Profil gewonnen, machte sich zunehmend für Zivilcourage und gegen Rassismus stark. Er wurde zum Gesicht des Blutspendediensts des Bayerischen Roten Kreuzes und nutzte seine Millionen-Reichweite in den sozialen Medien auch mehrfach, um an die Opfer der Nazi-Zeit zu erinnern und für den Besuch von Holocaust-Gedenkstätten zu werben.

Als vor einem Jahr Ilkay Gündogan und Leroy Sané bei einem Länderspiel auf der Tribüne rassistisch bepöbelt wurden, hielt Goretzka mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg.

"Ich kann nur alle aufrufen, mit viel Mut dagegen vorzugehen und solche Leute in die Schranken zu weisen", forderte er und legte mit einem Satz nach, der später bei der Wahl zum Fußballsatz des Jahres auf Platz zwei landete: "Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets. Da antwortet man auf die Frage nach der Nationalität mit Schalke, Dortmund oder Bochum. Für uns ist Integration kein Thema, sondern Selbstverständlichkeit."

Goretzka richtet Appell an Fußballerkollegen

Klare Haltung, in klare Worte gefasst - damit beeindruckte Goretzka immer wieder viele. Und für Neururer ist diese Seite Goretzkas untrennbar mit seinen Qualitäten als Fußballer verbunden: "Er kann, muss und wird DER Repräsentant des deutschen Fußballs werden, weil bei ihm das Gesamtpaket überproportional stimmt."

Dass Goretzka angesichts seiner klaren Haltung mit Gegenwind bis hin zu Morddrohungen konfrontiert wird, nimmt er in Kauf. Das sei "noch lange kein Grund, ab sofort die Klappe zu halten", sagte er in der Januar-Ausgabe des FCB-Klub-Magazins 51. Man müsse trotz Anfeindungen "standhaft bleiben. Ich werde mich immer entsprechend äußern."

Goretzkas dringender Appell, der auch an die Fußballerkollegen gerichtet ist: "Mein Aufruf ist da ganz bewusst: Erhebt Eure Stimme. Um die Probleme unserer Zeit zu lösen, müssen wir alle einen Beitrag leisten!"

Sein Versprechen, dass er auch zukünftig über den Tellerrand hinausschauen wird, klingt übrigens so: "Als Profi, gerade als Nationalspieler, hat man nicht nur großes Glück, sondern auch Verantwortung. Dieser möchte ich so gut es geht gerecht werden."

Deutliche Worte, die Goretzka durch Aktionen wie "WeKickCorona" mit Leben füllt.