Wie "Mister Italia" seine Fußball-Nation rettete

Schon vor dem finalen Showdown bei der EM 2021 hat sich Roberto Mancini in die Geschichtsbücher eingetragen.

Der Coach der italienischen Nationalmannschaft ist mit seinem Team seit 33 Spielen in Folge ungeschlagen. Ein Kunststück, das selbst die legendären Weltmeister-Trainer Vittorio Pozzo und Marcello Lippi nicht vollbringen konnten. Die noch viel größere Leistung ist aber wohl, was Mancini in den letzten drei Jahren aus einer am Boden liegenden Mannschaft gemacht hat, bevor es nun zum Titel-Duell mit England kommt. (EM-Finale: Italien - England, Sonntag 21 Uhr im LIVETICKER)

Denn "Mister Italia", wie ihn der Corriere dello Sport nach dem Einzug ins Endspiel taufte, führte sein Team nicht nur zurück in die Weltspitze.

Er verpasste der Squadra Azzurra auch ein völlig neues Gesicht. Pulverisierte das uralte Bild vom Catenaccio, dem teils unansehnlichen Defensivfußball diverser Vorgänger. Aus den Trümmern errichtete der ehemalige Trainer von Manchester City eine Mannschaft, die weit über die eigenen Landesgrenzen hinaus für Begeisterung sorgt.

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Mit überfallartigen Angriffen, mitreißenden Zweikämpfen und einem Teamgeist, der seinesgleichen sucht.

Gattuso: Das gab es bei Italien noch nie

"Ideen wie seine hat man beim Nationalteam noch nie gesehen", sagte Gennaro Gattuso, italienischer Weltmeister von 2006, jüngst über den Architekten der Erfolgs-Elf. Der legendäre Ex-Nationaltrainer Arrigo Sacchi sieht in ihm gar den Trendsetter für ein ganzes Land: "In kürzester Zeit hat er es geschafft, einen modernen Fußball einzuführen. Ich hoffe, dass er alle italienischen Trainer in dieselbe Richtung gehen lässt."

Mancini hat Italien einen völlig neuen Stil verpasst. Der 56-Jährige ist dabei längst selbst als Stilikone bekannt.

Die lässigen Sakkos, die Krawatte, das Selbstverständnis eines Gewinners. "Wie ein Prada-Model", befand die deutsche Tennisspielerin Andrea Petkovic auf Twitter. Mit dieser Meinung ist sie nicht alleine. Mancini ist ohne Zweifel eines der Gesichter dieser Europameisterschaft. Die Sun hatte den Italiener sogar mal auf einer Doppelseite als Model präsentiert.

Selbst Spieler glaubten nicht an Mancinis Vision

Mit Turnierbeginn spielte sich sein Team in den Vordergrund. Das 3:0 gegen die Türkei war beeindruckend, noch beeindruckender war der 3:0-Erfolg gegen die Schweiz.

Nach einer makellosen Gruppenphase leistete sich das Team beim 2:1 gegen Österreich einen etwas schwächeren Auftritt, bei den Duellen mit den Topnationen Belgien (2:1) und Spanien untermauerte das Team aber wieder seine zahlreichen Stärken. Obwohl Mancini viele junge Spieler ins Team integrierte, war die Truppe abgeklärt und stets bereit zu kämpfen.

Der Coach gab dem fußballverrückten Land Hoffnung auf den ganz großen Wurf. Mittlerweile glauben sie alle an ihn, zu Beginn taten es nicht mal die eigenen Spieler.

"Paradoxerweise haben auch wir ihn anfangs für verrückt gehalten, als er uns gesagt hat, dass wir uns in den Kopf setzen sollen, die EM zu gewinnen", sagte Italiens Mannschaftskapitän Giorgio Chiellini bei uefa.com. Und dennoch führte der Coach sie bis ins Finale. "Jetzt steht das bevor, wovon wir seit drei Jahren träumen. Das, was der Trainer uns nach und nach eingebläut hat, bis es Realität wurde."

Mancini kann sich nicht nur gut kleiden, sondern findet auch oft die richtigen Worte - gerne voller Emotionen, mit teils philosophischem Inhalt und jeder Menge Nationalpathos. So hatte er schon vor dem Turnier die Italiener auf die Seite der Nationalmannschaft gezogen, die ihnen zuletzt wenig Freude gemacht hat.

"Wir gehen an den Start, um den EM-Titel zu holen, der uns seit 1968 fehlt. Der Titel könnte eine Wiedergeburt für den Fußball und für das ganze Land sein. Es ist Zeit, den Leuten ein Lächeln zu schenken", hatte Mancini da gesagt. Vor dem Turnierstart hatte er sogar einen offenen Brief geschrieben: "Vereint unter einem einzigen blauen Himmel ... spielen wir mit der Verantwortung, eines der stärksten und schönsten Länder der Welt zu repräsentieren. Wir wollen Spaß haben".

Wenige Tage danach lag ihm sein Heimatland endgültig zu Füßen.

Die Wurzeln des Erfolgstrainers

Nachdem sich die Squadra Azzurra 2018 noch nicht einmal für die Weltmeisterschaft in Russland qualifizieren konnten, war in Italien von einer "Nationalelf in Trümmern" oder sogar einer "Apokalypse" geschrieben worden.

Seit Mancini 2018 übernahm, hat er einen Umbruch eingeleitet und mittlerweile erfolgreich durchgeführt.

Der Hauptgrund für diesen rasanten Wandel - da sind sich Fußball-Fans und -Experten in Italien einig - ist der erfahrene Trainer, der sein komplettes Berufsleben dem Fußball widmete.

Mancini ist als Sohn eines Schreiners in einem unscheinbaren Bergdorf in den Marken geboren. Mit 13 verließ er seine Heimat unfreiwillig und wurde ins Nachwuchsinternat des FC Bologna gesteckt. Er heckte regelmäßig Fluchtpläne aus, aber blieb, bis er 16 Jahre alt war. Dann begann die große Karriere des "Mancio".

Mancio bedeutet so viel wie "Haken". Der Spitzname beschrieb den Spielstil des talentierten Jugendlichen. Später wurde er als "Fantasista" bezeichnet - als Freigeist auf dem Platz. Als kreativer Zehner, als Magier auf dem Rasen. In dieser Rolle verzauberte er den italienischen Fußball. Technisch stark, immer mit einer Idee, frech im Zweikampf und ohne jede Furcht.

Inbegriff des Dolce Vita

Als der Offensivspieler 19 war, fuhr er mit den Italienern erstmals auf eine Länderspielreise. 1984 war das in den Vereinigten Staaten - Italien war damals Weltmeister, um Mancini herum nur gestandene Größen des Weltfußballs. In New York bekam Mancini dann den wohl größten Anschiss seiner Karriere.

Mit Teamkollegen besuchte er das legendäre Studio 54 in New York und blieb dort bis in die Morgenstunden. Als der junge Mann zurückkam, wartete Weltmeistertrainer Enzo Bearzot bereits auf ihn. Er habe Verantwortung gegenüber seinen Eltern: "Ich werde dich nie wieder berufen, und wenn du 40 Saisontore schießt."

Es sollte nicht das letzte Spiel für die Nationalmannschaft von Mancini gewesen sein, seine Karriere als Nationalspieler litt darunter aber durchaus. "Er hätte sich nur entschuldigen müssen", sagte Bearzot später. Doch das tat Mancini nicht.

Die Geschichte unterstreicht den Typ Freigeist und Lebemann, der Mancini Zeit seines Lebens blieb. Heute ist er stolzer Yacht-Besitzer und zelebriert das italienische Lebensgefühl wie kaum ein anderer. Mancini könnte fast schon als Inbegriff des Dolce Vita bezeichnet werden.

Der Frauenschwarm hat viele Fans

Als Spieler verbrachte Mancini lange Jahre in Genua, spielte außerdem für den FC Bologna, Lazio Rom und Leicester City. Noch im Jahr seines Karriereendes wurde er als Trainer des AC Florenz vorgestellt. Seitdem hat er kaum nennenswerte Pausen eingelegt. Besonders erfolgreich war er mit Inter Mailand (insgesamt sieben Trophäen), mit Manchester City feierte Mancini 2012 die legendäre Last-Minute-Meisterschaft.

Mit seiner Ausstrahlung, seinem Stil und seiner Persönlichkeit zieht er seit Jahrzehnten Menschen in seinen Bann. Viele Prominente in Italien - aber auch anderen Ländern - outeten sich als Mancini-Fans. Als sich der Italiener vor rund sechs Jahren von seiner Frau Frederica trennte, brachte sich prompt ein Playboy-Playmate als zukünftige "Misses Mancini" ins Gespräch.

"Wenn man mich fragen würde, ob ich seine Frau werden will, würde ich ja sagen, ohne darüber nachzudenken. Ich liebe ihn, er ist schön, talentiert und nett", erklärte April Summers damals auf ihren Social-Media-Kanälen.

"Die Magie kennt keine Grenzen"

Wichtiger dürfte Mancini sein, dass er eine ganze Mannschaft mit seiner bloßen Persönlichkeit beeindrucken kann. Er hat sich immer sein Charisma bewahrt und ist bis heute der Freigeist geblieben. Das kommt bei vielen Spielern an, die sich in der modernen Welt des Fußballs oft missverstanden und verloren fühlen. Mancini ist einer von ihnen geblieben - und doch ein ganz eigener Typ.

In Kombination mit seiner enormen Berufserfahrung als Fußballer und Fußballlehrer scheint er nun die große Chance zu haben, mit der italienischen Nationalmannschaft einen großen Titel zu holen. Damit würde er auch seine eigene Geschichte mit der "Nazionale" etwas aufhübschen. Nach dem Auftakt-Sieg gegen die Schweiz schob er die Favoritenrolle Italiens noch zur Seite, doch diese ist ihm längst sicher. Es dürfte auch mehr ein Schachzug eines erfahrenen Coaches gewesen sein.

In Italien träumen sie seit EM-Beginn davon, dass sie Mancini zum EM-Titel führt. "Wir haben die Apokalypse überlebt und träumen jetzt vom Größten", schrieb die Gazzetta dello Sport: "Die Magie kennt keine Grenzen".

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