Manuel Neuer zur WM? Ein nicht zu rechtfertigendes Risiko

Seit Wochen fiebert Manuel Neuer seinem Comeback entgegen, musste aber letzte Woche einen erneuten Rückschlag hinnehmen. Bundestrainer Löw plant trotzdem weiter fest mit seiner Nummer eins für die WM. Dabei wäre eine Teilnahme in Russland wenig sinnvoll – für beide Seiten.

Manuel Neuer hat sein September 2017 kein Spiel mehr absolviert.
Manuel Neuer hat sein September 2017 kein Spiel mehr absolviert.

Lars Stindl – Syndesmosebandriss, WM-Teilnahme ausgeschlossen.
Serge Gnabry – Muskelbündelriss, WM-Teilnahme ausgeschlossen.
Jerome Boateng – Saisonaus wegen Oberschenkelverletzung, WM-Teilnahme wahrscheinlich, aber Ungewissheit über den Fitnesszustand.
Mesut Özil – Saisonaus wegen Rückenschmerzen, WM-Teilnahme wahrscheinlich, aber Ungewissheit über den Fitnesszustand.

Joachim Löw ist eine Woche vor Bekanntgabe des vorläufigen WM-Kaders der DFB-Elf nicht zu beneiden. Die Patientenliste der potentiellen WM-Fahrer ist in den letzten zwei, drei Wochen immer länger geworden, Leistungsträger wie Boateng oder Özil müssen sich erst mühsam wieder rankämpfen, sobald ihre Verletzungen normales Training zulassen.

Es liegt in Löws Naturell, dass er sich von schlechten Nachrichten nicht aus der Ruhe bringen lässt. Als die Nation kurz vor der WM 2010 infolge der schweren Verletzung von Michael Ballack aufschrie, redete der Bundestrainer lieber seinen Kader stark, anstatt über den Ausfall des Kapitäns zu jammern. Deutschland spielte anschließend in Südafrika begeisternden Offensivfußball und wurde immerhin WM-Dritter.

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Rückschlag für Neuer

Auch 2018 lässt sich Löw nichts anmerken, nicht einmal bei der Personalie Manuel Neuer. Löw plant nach wie vor fest mit seiner Nummer eins für das Turnier in Russland. Doch gegen den Faktor Zeit ist auch Löw machtlos. Eigentlich wollte Neuer im Bundesligaspiel beim 1. FC Köln sein Comeback im Tor des FC Bayern feiern nach fast achtmonatiger Verletzungspause. Doch ein Knochenödem im lädierten linken Fuß bremste den Torhüter aus; Neuer verpasste eine komplette Trainingswoche und musste erneut individuell im Kraftraum schuften.

Noch immer hat Neuer keine einzige Einheit mit der Mannschaft absolviert, keinen Gegnerkontakt gehabt, keine Vorderleute dirigiert und sich nicht in Eins-gegen-Eins-Duelle geworfen.

Sein geplantes Comeback musste er immer wieder verschieben. Im Wintertrainingslager in Katar Anfang Januar ging Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge fest davon aus, dass Neuer “im Februar” wieder spielen wird. Aus Februar wurde schnell Ende März, dann Ende April. Selbst ein Einsatz im letzten Saisonspiel gegen den VfB Stuttgart am kommenden Samstag ist sehr unwahrscheinlich.

Neuer: Gesundheit ist das Wichtigste

In einem Interview mit dem Magazin GQ sagte Neuer, dass er “immer davon überzeugt war”, es rechtzeitig zur WM zu schaffen. Seine Vorfreude sei “riesig”, die Mannschaft habe nach den Erfolgen der letzten Jahre “große Ambitionen”. Gleichzeitig sprach Neuer aber auch über “viele Höhen und Tiefen”, die eine derartige Leidenszeit mit sich bringe und dass er persönlich etwas mitgenommen habe.

“Es ist wichtig, in seinen Körper hineinzuhorchen, auf Kleinigkeiten zu achten und es sehr ernst zu nehmen, was dir dein Körper reflektiert. Meine Gesundheit war und ist für mich das Wichtigste. Ich wollte da kein Risiko eingehen, denn ich möchte auch nach der WM noch erfolgreich Fußball spielen”, so Neuer.

Neuer möchte die WM gerne spielen, aber nicht um jeden Preis. Sein linker Fuß ist seine körperliche Schwachstelle, im September 2017 brach er sich zum dritten Mal binnen eines Jahres den Mittelfuß. Bayern-Trainer Jupp Heynckes wies zuletzt mehrfach auf die “sensible Verletzung” des 32-Jährigen hin. “Man muss immer vorsichtig sein. Das ist eine Verletzung, die zwei- oder dreimal aufgebrochen ist. Da darf man nicht nochmal einen Fehler machen”, so Heynckes.

Ter Stegen tritt aus Neuers Schatten

Es ist verständlich, dass Löw bis zur letzten Sekunde warten will, ob Neuer rechtzeitig fit wird. Er ist sein Kapitän, unwiderruflich einer der besten Torhüter der letzten zehn Jahre und innerhalb der Mannschaft, ob Bayern oder DFB-Elf, anerkannter Führungsspieler. Kurzum ein Spieler, auf den kein Trainer der Welt gerne verzichtet. Aber Neuer hat seit September 2017 kein Spiel mehr absolviert, seit März 2017 in 58 Pflichtspielen des FC Bayern gefehlt. Und in der Nationalmannschaft stand Neuer zuletzt im November 2016 zwischen den Pfosten.

Seit 2010 hat Neuer das Tor der deutschen Nationalmannschaft bei vier großen Turnieren gehütet. Er war in dieser Zeit stets unangefochten die Nummer eins in Deutschland. Doch mittlerweile sind andere Torhüter aus seinem Schatten getreten, allen voran Marc-Andre ter Stegen. Der befindet sich in der Form seines Lebens, wurde gerade Meister und Pokalsieger mit dem FC Barcelona und führte die Katalanen auch schon als Kapitän aufs Feld.

Rein aus sportlicher Betrachtung gibt es keine plausible Rechtfertigung, den rekonvaleszenten Neuer ter Stegen in Russland vorzuziehen. Ter Stegen ist körperlich topfit und hat erst im Clasico am vergangenen Sonntag wieder drei Großchancen von Cristiano Ronaldo und Co. vereitelt. Geht man die 32 Kader der WM-Teilnehmer durch, findet sich nirgendwo ein Torhüter, der aktuell besser ist als ter Stegen.

Training statt Turnier

Löw hat überhaupt keine Not, mit Neuer ein nicht kalkulierbares Risiko einzugehen. Das sollte auch Neuer nicht tun. 32 ist für einen Torhüter kein Alter; Neuer könnte noch mindestens zwei große Turniere spielen. Dafür muss er sich aber vollständig erholen und das ist am besten durch einen “freien” Sommer zu erreichen. Training in München statt kräftezehrendes Turnier in Russland.

Neuer sagte, er habe gelernt, in seinen Körper hineinzuhorchen. Für eine weitreichende Entscheidung wie die einer Teilnahme an einer Weltmeisterschaft nach langer Verletzungspause ist aber der Kopf genauso wichtig. Aus der Ferne betrachtet signalisiert die Vernunft, es lieber sein zu lassen.