Ein NFL-Märchen steht vor seinem Höhepunkt

Würde man einen Hollywood-Film über die Geschichte von Lamar Jackson drehen, würden wohl selbst die bekanntesten Produzenten dankend ablehnen: Zu kitschig, zu viel Drama, zu viel Happy End.

Doch das Sportmärchen des 23-Jährigen ist tatsächlich wahr, auch ohne im Kino zu landen. Mit den Baltimore Ravens startet der Quarterback als Topfavorit in die NFL-Playoffs, am 2. Februar soll in Miami der Triumph im Super Bowl LIV sowie die begehrte Trophäe als MVP stehen.

Jackson hatte schon früh einen Schicksalsschlag zu verkraften. Im Alter von acht Jahren starb sein Vater bei einem Verkehrsunfall, am gleichen Tag verlor auch seine Großmutter ihr Leben. Lamar wurde fortan von seiner Mutter Felicia Jones aufgezogen, einer früheren Basketballerin. Die Mutter erkannte früh das Football-Talent ihres Sohnes und lernte ihm bereits als Kind an, beim gemeinsamen Üben den Tackles auszuweichen - die Voraussetzung für die nun von Gegenspielern gefürchtete Beweglichkeit des Spielmachers. (Spielplan und Ergebnisse der NFL-Playoffs)

"Sie hatte eine Vision für meine Footballkarriere, bevor ich überhaupt dran gedacht habe", schrieb Lamar Jackson 2016 in einem offenen Brief.

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"Nicht schlecht für einen Running Back"

Das Training mit der Mutter fruchtete, bereits in jungen Jahren zeigte er großes Talent und brach im College bei den Louisville Cardinals regelmäßig Bestmarken in Lauf- und Passyards.

Doch parallel mit seinen Rekorden wuchs auch die Skepsis rund um den Superathleten. Beim NFL-Draft 2018 galt er als College-Phänomen, bis zu seiner Wahl als 32. und letzter Erstrundenpick wurden ihm vier weitere Quarterbacks vorgezogen.

Selbst in seiner Anfangszeit wurde er dazu ermuntert, sich wegen seiner Schnelligkeit doch als Running Back oder Wide Receiver zu probieren. Die Nachrichtenagentur AP sieht dadurch ein altbekanntes rassistisches Bild im amerikanischen Football bestätigt: Schwarze Spieler galten als physisch überlegen, Weiße sollen mental und bezüglich der Arbeitsethik voraus sein.

Jacksons Antwort: Am 1. Saisonspiel der aktuellen Saison gegen die Miami Dolphins warf Jackson beim 59:10 fünf Touchdowns, als jüngster Quarterback überhaupt schaffte er ein perfektes Pass-Rating - und sagte den Satz: "Nicht schlecht für einen Running Back."

Wenige Monate später sind alle Zweifel am neuen NFL-Phänomen Jackson längst beseitigt, der Spielmacher hat eine bärenstarke Saison hinter sich und gilt als Favorit für die Wahl zum wertvollsten Spieler der Regular Season. Mit 36 Wurf-Touchdowns und sieben Läufen in die Endzone bei nur sechs Interceptions hat er die Ravens zu 14 Siegen in 16 Spielen geführt, die AFC schloss Baltimore damit auf Platz 1 ab und sicherte sich den Heimvorteil bis zum Super Bowl.

Jacksons großes Ziel: Der Super Bowl

Seine 1.206 Rushing Yards sind die meisten eines Quarterbacks in der NFL-Geschichte und mehr als Tom Brady in seiner gesamten Karriere erreicht hat (1.037). Mit 3.296 Rushing Yards stellte das Team einen NFL-Rekord auf, im Durchschnitt erzielte Baltimore 33,2 Punkte pro Spiel.

"Er will unbedingt gewinnen. Wenn du eine großartige Einstellung hast, du talentiert bist und hart daran arbeitest, siehst du die Ergebnisse", sagte Ravens-Quarterbackcoach James Urban.

Ex-NFL-Champion Sebastian Vollmer ergänzt im Gespräch mit SPORT1: "Jackson ist ein absolutes Ausnahmetalent, gar keine Frage. Er hat aber vor allem auch die richtige Einstellung. Er denkt nicht, er sei der Coolste und Beste, sondern er will sein Team zum Erfolg führen. Dafür macht er alles und spielt alles aus."

In der Divisional Round warten nun die Tennessee Titans auf Jackson (So., 2.15 Uhr in LIVESCORES), der erste Gegner auf dem Weg in den Super Bowl.

Sein erstes Playoff-Spiel verlor der Youngster vor gut einem Jahr, in seiner Rookie-Saison setzte es in der Wild-Card-Round ein 17:23 gegen die Los Angeles Chargers. "Dieses Spiel ist vorbei. Ich habe es wirklich gehasst. Ich will darüber nicht mehr reden. Ich kann es nicht erwarten, diese Woche zu spielen", wischt Jackson die Gedanken beiseite. "Wir haben so ein großartiges Jahr. Wir wollen in den Super Bowl, deshalb habe ich gar nichts anderes im Kopf."

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Kniffliges Spiel gegen Tennessee Titans

Zeigt Jackson gegen die Titans seine "normale" Leistung, dürften die Ravens als Sieger vom Feld gehen. Allerdings kommt Tennessee mit jeder Menge Selbstbewusstsein, der Sieg bei den New England Patriots am vergangenen Wochenende war ein dickes Ausrufezeichen an die gesamte NFL.

Jacksons Gegenüber Ryan Tannehill schloss die reguläre Saison mit einem Pass-Rating von 117,5 als Führender der Liga ab, mit Derrick Henry verfügt Tennessee zudem über den besten Running Back der Liga. Henry erlief 1.540 Yards und war auch von den Patriots nie in den Griff zu kriegen (182 Yards, 1 Touchdown).

Einsätze von Ingram und Andrews fraglich

Zudem plagen die Ravens Personalprobleme in der Offensive. Sowohl der Einsatz von Top-Receiver Mark Ingram (15 Touchdowns 2019) als auch der von Star-Tight-End Mark Andrews (10) ist noch fraglich. Ingram trainierte am Donnerstag wieder, laut ESPN wird mit seinem Einsatz gerechnet.

Sollten Jacksons Lieblings-Anspielstationen doch wegbrechen, wird es umso mehr auf seine Läufe ankommen.

"Das Problem an dieser Spielweise ist nur, dass man als Team ein großes Risiko eingeht, den wichtigsten Spieler wegen einer Verletzung zu verlieren. Die Gefahr bei Quarterbacks, die viel laufen, ist, dass sie sehr viele Hits auf sich nehmen. Da kann auch mal ein Kreuzband reißen oder eine Schulter auskugeln", warnt Vollmer.

Eine Verletzung des Quarterbacks käme einem Drama gleich - davon hat Jackson in seinem Leben schon genug hinter sich.