Das Rätsel Alexander Zverev

November 2018, London. Alexander Zverev hat sich gerade beeindruckend zum Champion der prestigeträchtigen ATP-Finals gekrönt, da folgt der Ritterschlag. "Ein Star ist angekommen", sagt Boris Becker voller Überzeugung. Große Triumphe auch bei Grand-Slam-Turnieren scheinen nun in Reichweite.

Januar 2020, Brisbane. Zverev zerhackt seinen Schläger, beschimpft seinen Vater und gibt beim ATP Cup in Australien eine fast schon tragische Figur ab. Becker, Team-Kapitän der deutschen Mannschaft, erlebt hautnah und machtlos mit, wie sehr er sich in seiner Prognose getäuscht hat.

Der Zverev dieser Tage ist nicht mehr der mit Selbstvertrauen vollgepumpte Shootingstar, der bei seinem bislang größten Erfolg erst Roger Federer und dann auch noch Novak Djokovic triumphal schlug. Zverev hat aktuell viel zu sehr mit sich selbst zu kämpfen, um an große Siege zu glauben. Er wirkt mental blockiert, nicht bereit für die Spiele im Deutschland-Trikot.

"Das sind nicht die Bilder, die wir von Alexander Zverev sehen wollen", sagte der frühere Davis-Cup-Kapitän Patrik Kühnen bei Sky Sport News HD. Nicht nur Kühnen sieht, wie gefangen Zverev in der Situation ist: "Da gilt es, einen Weg heraus zu finden. Das ist schwer, da tut er mir schon fast leid."

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Zverev erlebte turbulentes Jahr 2019

Im neuen Jahr sollte alles besser werden, Zverev wollte die Querelen aus 2019 endgültig abhaken. Den kräfteraubenden Rechtsstreit mit Ex-Manager Patricio Apey, die mit Nebengeräuschen behaftete Trennung von Trainer Ivan Lendl, Turbulenzen im Liebesleben, die vielen Rückschläge bei wichtigen Turnieren. "Ich hatte den Spaß verloren. Nicht nur am Tennis, sondern an allem, was ich gemacht habe", sagte er dem Guardian: "Für eine Zeit lang war ich nicht ich selbst."

Seit dem Sommer hat Zverev ein neues Management, schlüpfte bei der von Federer gegründeten Agentur "Team8" unter. Der 22-Jährige kann sich also auf seine Kernarbeit fokussieren, er trainiert wieder mit seinem Vater, die Formkurve zeigte gegen Ende der vergangenen Saison leicht nach oben.

Der erneute Rückfall zu Saisonbeginn schmerzt. Im abschließenden Gruppenspiel beim ATP Cup gegen Kanada blieb ihm in der Nacht zu Dienstag (1 Uhr im LIVETICKER) die Chance, das Bild gegen Denis Shapovalov (ATP-14.) zumindest etwas zu korrigieren.

Showmatches gegen Federer statt Erholung

Es ist Zverevs Anspruch, Matches gegen Kontrahenten aller Kaliber zu gewinnen. "Niemand auf der Welt bürdet mir mehr Druck auf als ich selbst", sagte er jüngst. Angesichts der hohen mentalen Belastung wäre es womöglich sinnvoller gewesen, Ende 2019 wirklich mal Abstand zum Tennis zu gewinnen.

Stattdessen spielte Zverev noch Showmatches mit Federer in Süd- und Mittelamerika, es folgte eine Augen-OP in New York. Der Zeitraum für wirkliche Erholung fiel kurz aus.

Die Auftritte in Brisbane, inklusive der Entgleisungen, sollte dazu führen, dass er sein gesamtes Setup noch einmal hinterfragt. Er braucht frische Impulse, um wieder Schwung aufzunehmen.

"Der zweite Aufschlag ist der Blick in die Seele eines Tennisspielers", sagt Becker gern. Zverev reiht aktuell Doppelfehler an Doppelfehler.