Randale beim HSV-Abstieg: Ultra-vereinfacht

In der Nordkurve brach plötzlich die Hölle aus. (Bild: AP Photo/Michael Sohn)
In der Nordkurve brach plötzlich die Hölle aus. (Bild: AP Photo/Michael Sohn)

In Hamburg brennt das Stadion, Schuld sollen die Ultras sein. Doch so einfach ist das nicht. Ein Überblick über eine immer noch fehlinterpretierte Szene.

Von Moritz Piehler

Es waren nur noch ein paar wenige Minuten zu spielen in der 55-jährigen Geschichte des Hamburger Sportvereins. Viele Fans im ausverkauften Volksparkstadion standen auf, klatschten, begleiteten ihre kämpfende Mannschaft singend in die Zweite Liga. Bis in der Nordkurve plötzlich die Hölle ausbrach, Rauchbomben und Pyrotechnik bis auf den Platz flogen. Das Spiel stand kurz vor einem Abbruch und der Traditionsverein vor einem sehr unrühmlichen Ende seiner Bundesligazeit. Es war nur dem umsichtigen Handeln des Schirigespanns zu verdanken, dass das Spiel noch einmal angepfiffen werden konnte und so keine weitere Eskalation passierte. Die Empörung war in der Hansestadt und anderswo groß – und die Schuldigen schnell gefunden. Die Ultras. Wieder einmal bekamen die Hardcorefans den eingespielten Chaoten-Vorwurf zu hören. Das zeigt wieder einmal, wie sehr die Szene über einen Kamm geschoren wird.

Das Thema Ultras fasziniert und beschäftigt Fußballfans und Medien gleichermaßen. Oft umschwebt die Ultraszene ein gewisser Mythos, von außen betrachtet haben sie fast etwas geheimbündlerisches. In die breitere Öffentlichkeit treten die Ultras immer dann, wenn über sie diskutiert wird. Im besten Falle wegen aufwändiger Choreos und bedingungslosem Support, der auch „normale“ Stadiongänger mitreißt. Im schlechteren Fall werden Ultras mit Hooligans gleichgesetzt und mit Gewalt und Ausschreitungen in Verbindung gebracht.

Die Ursprünge

Der Begriff stammt ursprünglich aus Italien, wo sich bereits vor gut sechzig Jahren die ersten Gruppierungen zusammen taten, um ihre Teams zu unterstützen. So ist es auch zu erklären, dass Elemente von politischen Demonstrationen der damaligen Zeit auch ihren Weg in die Stadien fanden: Gesänge, Parolen, Fahnen und Trommeln. Durch die ausartende Gewalt und die neu aufkommende Hooliganszene in den Achtziger Jahren, die erst durch strenge Maßnahmen eingeschränkt werden konnte, gerieten aber auch die Ultras schnell unter Generalverdacht. Auch heute ist nicht jedem klar, dass es sich dabei um eine sehr vielseitige Bewegung handelt, die sich selbst innerhalb eines Vereines stark voneinander unterscheiden kann.

Vereinend ist, dass sich Ultras für fußballpolitische Themen stark machen und oft auch darüber hinaus politisch engagiert sind. Lieblingsthema über alle Vereine hinweg ist zum Beispiel die voranschreitende Kommerzialisierung und der Kampf dagegen. Innerhalb der Vereine hat ihr Wort oft ein großes Gewicht, das zeigt sich etwa in der 50+1 Debatte und anderen Fan-Belangen. Dazu bleiben sie hartnäckig in Themen wie der Aufklärung der Hintergründe des sogenannten Sommermärchens. Im Stadion sorgen sie für bunten Protest und große Stimmung und sind natürlich so auch Teil des großen Fußballbusiness. Es lohnt sich also immer, sich die einzelnen Ultra-Gruppen genauer anzuschauen, bevor man sie unter Generalverdacht stellt.

Es gibt die, die sich in erster Linie als bedingungslose Fans verstehen, deren Aufgabe darin besteht, ihre Mannschaft auswärts und zuhause mit sogenanntem spielunabhängigem Support zu unterstützen. Die sorgen oft für Gänsehautmomente auf den Rängen und Hexenkessel-Athmosphäre für Gästeteams. Und dann gibt es die andere Kategorie, die sich zum Beispiel jetzt beim HSV im Abstiegskampf gezeigt hat mit der plakatierten Drohung: „Bevor die Uhr ausgeht, jagen wir euch durch die Stadt“ und mit der Rauchbomben-Show zum Saisonabschluss. Es sind diese Teile der Ultrabewegung, bei denen die Grenzen zur Hooligankultur verschwimmen.

Ultras von Dynamo Dresden erklärten DFB den Krieg

Im vergangenen Jahr erklärten zum Beispiel die ohnehin als teilweise gewaltbereit bekannten Ultras von Dynamo Dresden dem DFB kurzerhand den Krieg. Martialisch ausgestattet marschierten sie durch Karlsruhe und stürmten das Stadion. Es hagelte Stadionverbote und Kollektivstrafen – die übliche Reaktion der Verbände auf solche Machtspiele. Wie gespalten aber auch die Szene selbst ist, zeigte sich in den internen Reaktionen. Für ihren Auftritt in Karlsruhe gab es lautstarke Kritik für die Dresdner – es gab aber auch 30 Ultragruppen aus ganz Deutschland, die sich der „Kriegserklärung“ an den DFB anschlossen. Neben den Dresdner Ultras gelten beispielsweise die Braunschweiger als eher in der Hooliganszene verwurzelt. Bei den Norddeutschen ist mittlerweile nahezu die komplette Ultrabewegung mit Stadionverboten belegt, nach letzten offiziellen Angaben gab es bundesweit etwa 1600 Stadionverbote. Bei sechs Profivereinen gab es in der vergangenen Saison Teilausschlüsse oder gesperrte Tribünen. Doch wie wirksam diese Kollektivstrafen wirklich sind, ist ziemlich umstritten.

Am meisten Aufmerksamkeit erregte die verwaiste Südtribüne von Borussia Dortmund. Es war ein ungewohntes Bild in der sonst so erfolgsverwöhnten Bundesliga. Die Dortmunder Ultra-Szene hat ohnehin keinen guten Ruf, denn sie hat immer wieder mit Unterwanderung durch die rechte Szene zu kämpfen. Das Beispiel von Hertha BSC Berlin zeigt, dass sich Ultraszenen durchaus auch gegen Neonazis in den eigenen Reihen zu wehren wissen. In den Achtzigern waren die rechten „Hertha Frösche“ in jedem Stadion berüchtigt, mittlerweile haben Ultras sie aus dem Olympiastadion verdrängt. Als wenig konfliktscheu gilt auch die Ultraszene in Frankfurt. Das bekommt der Verein immer wieder mit hohen Strafen zu spüren, allerdings gibt es dort immerhin eine lang gewachsene Kommunikation zwischen Vereinsführung und Ultra-Vertretern. Das gilt auch für Werder Bremen, die ihre Ultras als Teil einer vielfältigen Fanszene betrachten und so kaum mit Problemen zu kämpfen haben.

Münchens „Schickeria“ gegen Homophobie und Rassismus

Klar politisch positioniert ist zum Beispiel die „Schickeria“ in München, die sich gegen Homophobie und Rassismus im Stadion aussprechen. Oft genug heizen sie dem notorisch unterkühlten Erfolgspublikum des Rekordmeisters ein und sind zudem eine unüberhörbare, wenn auch nicht gerade geliebte Fanstimme in den Gremien der Bayern. Die „Schickeria“ ist eher dem linken Spektrum zuzuordnen und mit den links-politischen Ultras des FC St Pauli befreundet. Viele der Ultras haben aber keine eindeutige politische Ausrichtung. Die größte Ultra-Gruppe von Schalke 04 etwa betrachtet sich als unpolitisch, etwa 1000 Mitglieder gehören zu den „Ultras Gelsenkirchen“. Das heißt aber nicht, dass sie nicht deutlich zu Vereins- und Fanthemen Stellung beziehen. Das kann durchaus schwierige Konflikte innerhalb der Vereine verursachen.

Immer wieder Probleme mit den eigenen Ultras haben zum Beispiel Hannover 96 und der FC Köln, bei beiden Vereinen entlädt sich die Wut gegen die Clubführung oft lautstark und – im Falle Hannovers – auch in zahlreichen gewalttätigen Ausschreitungen. Auch beim VfB Stuttgart, mit dem „Commando Cannstatt“ als wichtigster Gruppierung, geht wenig ohne die Ultras. Und in Mainz und Mönchengladbach sprechen die Ultras ebenfalls in wichtigen Entscheidungen ein Wörtchen mit. Als gewaltbereit gilt aber keine der drei letzteren Fangruppen.

Die deutsche Ultraszene ist also weit gefächert und ein Verhalten wie in Hamburg – so deutlich es abgelehnt werden muss – sollte nicht als Vorwand dienen, eine ganze Fan- und Jugendkultur vorzuverurteilen.

Im Video: Der Abstieg des HSV