Reals abgestürztes Supertalent

Als Schiedsrichter Sergey Karasev am 18. März 2014 das Champions-League-Spiel zwischen Real Madrid und dem FC Schalke 04 anpfiff, ahnte Jesé Rodriguez sicherlich noch nicht, dass seine Karriere vier Minuten später eine entscheidende Wendung nehmen sollte.

Der damals 21-Jährige, der schon seit einigen Jahren als das nächste Wunderkind der Königlichen galt, startete in der vierten Spielminute einen Lauf auf der rechten Außenbahn. Als Schalkes Sead Kolasinac ihn stellen wollte, versuchte Jesé denn Ball abzuschirmen. Kolasinac legte den Arm an und einen Augenblick später lag Jesé mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem heiligen Rasen des Santiago Bernabéu.

"Ich musste in fünf Minuten entscheiden, ob deine Karriere im Fußball beendet ist", sollte Dr. Jesus Olmo dem vielversprechenden Talent später sagen: "Der Doktor, der dich operiert hat, hat es nicht gesehen, aber ich habe ihn überzeugt, eine weitere Arthroskopie zu machen."

Bei dem Sturz hatte sich Jesé das Knie verdreht. Diagnose: Kreuzbandriss. Bei der Operation war dann auch noch eine Entzündung aufgetreten. Letztlich dauerte es acht Monate, bis der Außenstürmer wieder im Trikot der Königlichen auflaufen konnte.

Mascarell: "Der Talentierteste von allen"

Im Jahr 2017 sagte Jesé einmal: "Mir hat es nie gefallen, mich mit jemandem zu vergleichen, aber ich glaube, dass ich ohne die Verletzung bei Real Madrid unumstrittener Stammspieler wäre."

"Ich war zu dem Zeitpunkt in der besten Form meiner Karriere", blickt er nun in einer 25-minütigen Dokumentation der spanischen Sportzeitung Marca zurück. Die Dokumentation ist der Rückblick auf eine Karriere, die verheißungsvoll begann, aber seit der schweren Verletzung zu einer Aneinanderreihung von Enttäuschungen verkommen ist.

Sie beginnt allerdings mit einem Telefonat, das erst vor wenigen Wochen stattgefunden hat. Jesé befindet sich im Marbella Football Center und hat ein Tablet in der Hand, auf dem sein Vater Pascual Rodriguez zu sehen ist.

"Ich arbeite wie ein Tier, Papa", sagt der Sohnemann. "Ja, du siehst stark und motiviert aus", antwortet der Vater. "Ich will wieder auf den Rasen und Fußball spielen. Das ist mein Platz", fügt Jesé hinzu.

"Mein Vater war ein harter Arbeiter, der viele Dinge aufgegeben hat, um uns eine Zukunft zu ermöglichen", erzählt sein älterer Bruder Israel der Marca. Jesé hat auch noch drei jüngere Brüder, seinen Eltern kaufte er ein Haus, nachdem er bei Real seinen ersten großen Vertrag unterschrieben hatte.

Geboren wurde Jesé Rodríguez Ruiz, wie der Spanier mit vollständigem Namen heißt, am 26. Feburar 1993 auf Gran Canaria. Mit 14 Jahren verließ der leidenschaftliche Kicker die Insel, um sich der Jugendakademie von Real anzuschließen.

"Jesé war der Talentierteste von allen dort", erinnert sich sein Kumpel - und damaliger Teamkollege - Omar Mascarell im Oktober 2019 im Gespräch mit SPOX und Goal: "Jeder wusste: Der Junge hat alles, um irgendwann in der ersten Mannschaft zu spielen."

Große Pläne: Jesé will den Ballon d´Or gewinnen

"Er war schon immer ein Träumer, aber er verwirklichte seine Träume", verrät Bruder Israel. "Als wir als Kinder im Camp Nou waren sagte er: 'Eines Tages werde ich hier spielen und auch treffen.'"

Und genau das tat er auch - am 26. Oktober 2013. Nach seiner Einwechslung hatte der Offensivspieler in der Nachspielzeit eine Vorarbeit von Cristiano Ronaldo veredelt.

Sein Treffer änderte zwar nichts mehr an der 1:2-Niederlage gegen den großen Rivalen, allerdings bestätigte es den Verantwortlichen und Fans ihren Eindruck, den sie von dem jungen Spieler in den Monaten zuvor gewonnen hatten: aus Jesé würde mal ein Superstar des Fußballs werden.

Im Januar 2014 hielt der Hoffnungsträger der Fans dann den Ballon d´Or in den Händen. Ronaldo hatte die Auszeichnung zum besten Fußballer des Jahres im Santiago Bernabeu präsentiert, Jesé hatte sich den Goldenen Ball für ein Foto ausgeliehen. Wenige Tage später ließ er eine Ansage Folgen: "In fünf Jahren will ich den Goldenen Ball selbst gewinnen."

Falsche Freunde und "schwierige Frau"

Es kam anders. Sechs Jahre später weilt Jesé in Marbella, obwohl er eigentlich in der französischen Hauptstadt, bei seinem Arbeitgeber Paris Saint-Germain sein sollte, zu dem er im Sommer 2016 für 25 Millionen Euro gewechselt war. Bei Real hatte er in der hochkarätig besetzten Offensive keinen Platz mehr gehabt.

Der 27-Jährige ist fit und sagt, dass er PSG "zur Verfügung stehe". Allerdings scheint ihn dort keiner zu vermissen. Der Fünfjahresvertrag, den die Verantwortlichen des französischen Serienmeisters wohl längst bitter bereuen dürften, läuft noch bis Sommer 2021. Jesé absolvierte bislang nur 16 Spiele für PSG - er hat eine Leih-Odyssee hinter sich.

Bei keiner der Stationen gelang ihm allerdings eine Rückkehr zu alter Stärke. Nicht in der Heimat bei UD Las Palmas, nicht bei Stoke City, nicht bei Real Betis und auch nicht bei Sporting Lissabon.

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Gründe dafür dürften auch abseits des Platzes zu finden sein. Schon bei seiner Verletzungspause soll Jesé den Fußball aus den Augen verloren haben.

Er stürzte sich in lange Partynächte und versuchte sich unter den Pseudonymen "Big Flow" und "Jey M" als Rapper. In der spanischen Klatschpresse war wöchentlich von seinen Frauengeschichten zu lesen. "Ich war in Madrid von Leuten umgeben, fühlte mich aber einsam", verriet Jesé der Marca.

"Jesé ist ein guter Junge, der das Herz am rechten Fleck hat", sagte Mascarell. "Aber: Er hat dann irgendwann viele falsche Freunde kennengelernt - und eine schwierige Frau."

Bei der Frau handelt es sich um das Model Aurah Ruiz. Jesé berichtete später, dass er irgendwann seine Kreditkarte sperren ließ, da Ruiz leidenschaftlich damit shoppen ging. Ende Juni 2017 kam ihr gemeinsamer Sohn Nyan mit einer Krankheit zur Welt - er kämpfte monatelang ums Überleben.

Jesé will sich zurückkämpfen

"Bei Stoke ging es mir psychisch viele Monate lang sehr schlecht, weil ich wegen meines Sohnes sehr litt", erzählt Jesé in der Marca-Doku. Ruiz machte ihrem Freund hingegen öffentlich Vorwürfe, dass er sich nicht um Nyan sorge. Auf dem Platz war zu erkennen, dass Jesé die Situation zusetzte.

"Ich habe eine Reihe von Problemen durchgemacht, die mich traurig gemacht haben. Ich habe geweint, gelitten, aber ich habe es in mich hineingefressen. Ich streite nicht ab, dass es Momente in meinem Leben gab, in denen es mir sehr schlecht ging", blickt Jesé zurück. "Ich habe Freundschaften gekündigt. Ich glaube, ich hatte einige, die nicht gut waren. Sie sind nun weg aus meinem Leben."

Jetzt fühlt sich sich das einstige Wunderkind bereit, sich wieder voll auf den Profifußball zu konzentrieren: "Ich vermisse es sehr, Fußball zu spielen. Ich muss an einem Ort sein, an dem man mich 30 Spiele machen lässt. Dann werde ich ganz sicher mit dem Ball am Fuß sprechen."

Jesé will wieder dort hin, wo sein Platz ist. Ob ein Klub das Risiko eingeht, eine Ablösesumme für das vergessene Supertalent zu zahlen ist allerdings unwahrscheinlich. Der 27-Jährige muss sich wohl über eine weitere Leihe zurückkämpfen.

Israel zumindest ist weiterhin von seinem Bruder überzeugt: "Das Beste von Jesé kommt erst noch."