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Bis heute umstritten: Maskes zweifelhafter Sieg über Rocky

Eine Minute und elf Sekunden vor dem Schlussgong schien Rocky es geschafft zu haben.

Henry Maske, der große Rivale von Graciano Rocchigiani, lag am Boden. Sichtbar benommen, sichtbar mitgenommen von zwölf Runden im Ring mit seinem unerwartet auftrumpfenden Widersacher.

Fast 13 Millionen TV-Zuschauer schienen heute vor 25 Jahren Zeuge einer Sensation zu werden, einem unerwarteten Triumph des abgeschriebenen Ex-Weltmeisters Rocchigiani.

Es kam anders, unter umstrittenen Umständen. Der sportliche Höhepunkt in der Karriere des im Oktober 2018 tödlich verunglückten Graciano Rocchigiani war es dennoch.

Maske - Rocchigiani: Duell der Gegensätze

Maske - Rocchigiani: Es war ein Duell, auf das die Nation hingefiebert hatte.

Maske, 1988 Olympiasieger für die DDR und seit 1993 Halbschwergewichts-Weltmeister für das wiedervereinte Deutschland stand damals im Zentrum eines großen Box-Booms: ein technisch versierter, skandalfreier Gentleman-Kämpfer, der zum gesamtdeutschen Vorzeige-Athleten avancierte. In keinem Text über den Mann aus Treuenbrietzen bei Potsdam fehlte der Hinweis, er hätte das Boxen "salonfähig gemacht".

Im Gegensatz dazu: Rocchigiani, der ewige Eisenbieger-Sohn und West-Berliner Straßenköter, skandalbehaftet, fern aller Salons, aber eine authentische Erscheinung mit riesigem (Kämpfer-)Herz.

"Hau dem Ossi auf die Schnauze"

Es war ein Ost-West-Duell unter ungewohnten Vorzeichen: Maske verkörperte das Establishment, Rocky den im Schatten stehenden Anti-Helden. Der perfekte Gegensatz für einen perfekt inszenierten Box-Abend - und Rocchigiani gab auf die ihm eigene Weise alles, um den Gegensatz zu unterstreichen.

Auf der Pressekonferenz vor dem Kampf hob er sein raues Leben im Kiez hervor und attestierte Maske: "Da hättest Du keine Chance gehabt." Auch an der Ost-West-Erzählung webte er aktiv mit: "Wenn ick Leute auf der Straße reden höre", berlinerte er, "heißt es entweder: 'Hau dem Wessi auf die Schnauze' oder 'Hau dem Ossi auf die Schnauze'."

Am 27. Mai 1995 in der Dortmunder Westfalenhalle stieg der Fight, vermarktet als "Eine Frage der Ehre". Maske zog ein zu Vangelis' hymnischer Filmmusik aus dem Kolumbus-Streifen "Die Eroberung des Paradieses", Rocchigiani zur Titelmelodie von "Spiel mir das Lied vom Tod".

Rocky überrascht Experten

Die meisten Experten hatten damit gerechnet, dass Maske den früheren Supermittelgewichts-Champion ausboxen würde, Rocchigiani schien seine beste Zeit damals hinter sich gehabt zu haben.

Der damals 31 Jahre alte Rocchigiani aber überraschte seinen Altersgenossen Maske. Rocchigiani - im Ring stets mehr Stratege, als sein wildes Image vermuten ließ - agierte geschickt aus einer funktionierenden Doppeldeckung, erwischte Maske immer wieder mit zielsicheren Aufwärtshaken.

An mehreren Stellen gelangen Rocchigiani Wirkungstreffer, in den letzten Runden wurde Maske in einen ungewohnten Angriffsmodus gezwungen, im Schlussdurchgang taumelte der IBF-Champ, ging gar zu Boden - es war aber kein offizieller Niederschlag, Maske war mehr geschubst als geschlagen worden.

Rocchigiani fühlte sich dennoch als Sieger, zahlreiche Fans - durch seine couragierte Vorstellung auch viele neue - sahen es genauso. Die Kampfrichter aber befanden: Punktsieg für Maske. Rocky sei in seinen schwächeren Runden zu wenig aktiv gewesen, hieß es.

Umstrittene Niederlage auch gegen Michalczewski

Der umstrittene Kampfausgang bewegte und spaltete die Sportnation, wurde später sogar literarisch verewigt. Der preisgekrönte Autor Clemens Meyer ließ die Hauptfiguren seines Romans "Als wir träumten" - eine ostdeutsche Jungsclique - 13 Seiten lang mit ihrem Idol Rocky fiebern ("Wenn Rocky die Zwölfte hat, klaut er dem scheiß Gentleman den Titel").

Rocky hatte den Titel nicht, trotzdem war seine wechselhafte Karriere neu belebt: Maske und er bestritten noch im selben Jahr einen zum Mega-Event aufgebauten Rückkampf in der Münchener Olympiahalle, "Eine Frage der Ehre II". 17,59 Millionen sahen zu, wie Rocchigiani diesmal unumstritten nach Punkten verlor.

Rocchigiani wandte sich dann dem anderen deutschen Weltmeister Dariusz Michalczewski zu, gegen den "Tiger" verlor er unter großer öffentlicher Anteilnahme ebenfalls einmal höchst kontrovers und einmal klar.

"Es war die Zeit der großen Kämpfe", lautete der letzte Satz in Clemens Meyers Rocky-Kapitel, "und er hatte sie alle verloren."

Aus Rivalen wurden Freunde

Sportliche Anerkennung hatte sich Rocchigiani trotzdem erkämpft, auch von Maske. Der "Gentleman", von Rocchigiani damals noch verflucht ("Anpassung, dit Fach hat der Typ doch studiert"), und sein unangepasster Rivale schlossen einige Jahre später Freundschaft.

"Wir bemerkten, dass uns eine Eigenschaft sehr verbindet, die des Kämpfens bis zum bitteren Ende. Wir hatten einige sehr schöne Momente", sagte Maske - heute Fast-Food-Unternehmer und Motivationsredner - nach Rocchigianis Unfalltod der Nachrichtenagentur dpa.

Nur über eine Sache waren sich Rocchigiani und Maske nie einig geworden: Darüber, ob das Urteil des ersten Kampfs berechtigt war.