Der unglaubliche Wandel eines Einsamen

Der unglaubliche Wandel eines Einsamen
Der unglaubliche Wandel eines Einsamen

Am Ende stand er einfach nur noch da, die Hände in den Haaren vergraben, der Blick konsterniert über die Tribünen gleitend, während eine ganze Bayern-Mannschaft an ihm vorbeistürmte und ihn noch einsamer wirken ließ, als er ohnehin schon war.

Romelu Lukaku wird den 30. August 2013 wohl nie vergessen. Damals änderte sich vieles im Leben des Belgiers, der zwei Jahre zuvor mit den größten Erwartungen zum FC Chelsea gewechselt war, diese aber nie erfüllen konnte.

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Ein zweijähriges Missverständnis gipfelte schließlich im verschossenen Elfmeter gegen Bayern im Supercup-Finale von Prag; ein Elfmeter, der nicht nur das Aus der Blues besiegelte, sondern auch das des damals 20-Jährigen.

José Mourinho, der in jener Zeit noch Trainer bei Chelsea war, gab später sogar zu, dass Lukaku niemals hätte schießen dürfen.

"Ich hatte kein gutes Gefühl", erklärte Mourinho im Gespräch mit The Sun. "Ich sagte ihm: 'Nein'."

Geholfen hat es ganz offenkundig nicht. Doch was passierte, ist heute nicht mehr zu ändern – und das mag sogar sein Gutes haben. Denn den Lukaku, den wir dieser Tage bei der EM sehen, mag auch ein Produkt aus jenen Tagen sein, die nicht ganz so gut liefen. (EM 2021: Belgien - Italien, ab 21 Uhr im SPORT1-LIVETICKER)

Der 28-Jährige, der zuletzt mit Inter Mailand den Meistertitel feierte und dort mit 24 Ligatoren glänzte, musste bereits einige Rückschläge hinnehmen. Sein Weg zeigt, dass Erfolg auf harter Arbeit gründet – und vor allem, dass ein Niederschlag noch lange nicht den K.o. bedeutet.

Martínez: "Bessere Entscheidungen"

"Er hat auf dem Rasen ein neues Level erreicht", sagte Belgien-Coach Roberto Martínez vor dem EM-Kracher gegen Italien. "Er war immer bekannt für seine Tore, jetzt trifft er immer bessere Entscheidungen. Er hat ein Bewusstsein für seine eigenen Fähigkeiten entwickelt."

Entwicklung ist hierbei das Stichwort. Lukaku, in dessen Antritt sich der pure Wille ebenso spiegelt wie im Glanz seiner Augen, konnte sich entwickeln, obwohl – oder gerade weil – er mehrmals zu den Aussortierten gehört hatte.

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Erst bei den Blues, die ihn 2012 an West Bromwich Albion ausliehen, dann zurückholten, um ihn – nach besagtem verschossenen Elfmeter – direkt wieder auszuleihen, diesmal an den FC Everton.

Später bei Manchester United, wo der 1,91-Tank in zwei Spielzeiten nie wirklich Fuß fassen konnte, weder unter Mourinho, auf den er zum zweiten Mal traf, noch unter Ole Gunnar Solskjaer. Am Ende musste er seinen Wechsel zu Inter sogar provozieren. Das war 2019.

"Bei United muss immer ein Sündenbock gefunden werden", erklärte Lukaku damals im LightHarted Podcast. "Und das waren immer Paul Pogba, Alexis Sánchez oder ich. Jedes Mal einer von uns dreien."

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Er habe nicht mehr gefühlt, dass er gewollt sei, und deshalb aufgehört, um einen Platz in der Startelf zu kämpfen: "Wenn man glücklich ist, findet man immer einen Weg. Da ist es egal, ob man auf der Bank sitzt oder in der Startformation steht. Aber niemand hat mir gesagt, wie die Situation ist, und darum habe ich zwei oder drei Wochen lang alles analysiert."

Das Ergebnis: jener Wechsel nach Mailand, der sein ganzes Leben verändern sollte. Lukaku erzielte 23 Tore in der Serie A und schloss seine erste Saison auf Platz zwei ab, nur einen Punkt hinter Juventus Turin.

Lukaku emotional

Ein Jahr darauf der totale Triumph. Unter Trainer Antonio Conte reifte Lukaku zum absoluten Führungsspieler. Dass das nicht nur das Fußballerische betrifft, zeigte sich beim belgischen EM-Auftakt gegen Russland, als der Stürmer nach seinem ersten Tor an die Seitenlinie lief und dort voller Inbrunst in die Kamera brüllte: "Chris, stay strong, I love you."

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Gerichtet war die Botschaft natürlich an Christian Eriksen, der wenige Stunden zuvor auf dem Rasen in Kopenhagen kollabiert war und für Minuten sogar um sein Leben kämpfen musste. Eriksen und Lukaku spielen seit Januar 2020 gemeinsam bei Inter.

"Ich habe ein paar Tränen vergossen, weil ich an seine Familie gedacht habe, seine Kinder, seine Freundin, seine Schwester", sagte Lukaku nach dem Spiel. "Es war sehr schwierig für mich, mich zu fokussieren, aber meine Kollegen haben mir geholfen, durch die Situation zu kommen, und dafür bin ich dankbar, aber meine Gedanken sind bei Christian und seiner Familie."

Lukaku – nicht nur der bullige Musterstürmer, sondern auch der Empfindsame, der Treuherzige, der das Menschliche über das Geschäft Fußball stellt.

Bei aller Emotionalität sprechen aber auch die klaren Fakten für Lukaku: In 97 Länderspielen schoss der Linksfuß 63 Tore, bei dieser EM waren es bereits drei.

"Er ist ein großartiger Stürmer", sagte Italiens Verteidiger Francesco Acerbi. "Er bringt sowohl in der Serie A als auch für Belgien Topleistungen. Wenn man ihm Platz lässt, schlägt er zu. Man muss immer aufmerksam sein, man darf ihm keinen Platz lassen."

Wilmots: "Wie Gerd Müller"

Marc Wilmots, der Lukaku unter anderem bei der EM 2016 als Nationalcoach betreute, ging sogar noch einen Schritt weiter und machte einen gewagten Vergleich.

"Romelu Lukaku ist ein positiv Verrückter und hat sich in den letzten Jahren enorm weiterentwickelt", erklärte der 52-Jährige bei SportBild. "Er ist aufgrund seiner Quote für Belgien so wichtig wie früher Gerd Müller für Deutschland, Wahnsinn."

Ob Lukaku wirklich der belgische Müller ist, könnte sich schon am Freitagabend herausstellen, wenn Italien in München zum Tanz bittet, ausgerechnet jene Nation, in der der 28-Jährige wieder ganz aufblühte.

Jene Nation, der Lukaku wieder beweisen will, dass er nicht mehr der einsam stehende 20-Jährige von damals ist.

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