Der vergessene Eklat von München

Der vergessene Eklat von München
Der vergessene Eklat von München

So gut wieder jeder kennt Tommie Smith und John Carlos.

Wenn nicht beim Namen, dann zumindest das unvergessliche Bild ihrer erhobenen Fäuste bei Olympia 1968 in Mexiko, das sie zu Symbolfiguren für den bis heute andauernden Kampf gegen Rassismus und für gesellschaftliche Gerechtigkeit machte.

Vince Matthews und Wayne Collett sind weit weniger in Erinnerung. Obwohl sie vier Jahre später, am 7. September 1972, unter ganz ähnlichen Umständen ihren sportlichen Erfolg bei den Olympischen Spielen für ein Zeichen des Protests nutzten - und ähnlich einschneidende Folgen auf sich nahmen.

Die beiden Afroamerikaner, Sieger und Zweitplatzierter über 400 Meter, handelten sich eine lebenslange Olympia-Sperre durch das IOC ein, weil sie sich den üblichen Normen der Siegerehrung verweigerten.

Und obwohl der Vorfall vor den Augen eines irritierten deutschen Publikums in München damals riesige Wellen schlug, ist er heute eher vergessen. Warum eigentlich?

Matthews und Collett: Zwischen Smith & Carlos und Kaepernick

Ein fulminanter Bericht des US-Olympiamedienpartners NBC hat im Februar 2021 ein neues Licht geworfen auf einen Protestakt, „der zur damaligen Zeit missverstanden und geschmäht wurde und seitdem größtenteils vergessen oder ignoriert wurde - obwohl er von Tag zu Tag historisch relevanter wird“.

Woran das liegt? In hohem Maße wohl daran, dass der Protest von Matthews und Collett nicht so bildstark war, nicht die symbolische Kraft der Black-Power-Faust hatte (oder der von NFL-Rebell Colin Kaepernick geprägten Take-a-Knee-Geste).

Matthews und Collett provozierten den Eklat stattdessen dadurch, dass sie die Ehrung betont unwillig über sich ergehen ließen, wie eine alltägliche Pflicht, die ihnen nichts bedeutete: Der barfüßige Collett stieg zu Matthews auf die oberste Stufe des Siegertreppchens, die beiden ignorierten unter Pfiffen und Buhrufen die eingespielte US-Nationalhymne, standen nur da, unterhielten sich, drehten an ihren Medaillen herum, Matthews kratzte sich am Kinn.

Es war keine kraftvolle Auflehnung wie die von Smith und Carlos, Matthews und Collett wirkten schlicht desillusioniert. Worüber, war nicht gleich so klar und leicht zu erfassen wie bei den beiden berühmten Vorgängern.

Protest bei der Siegerehrung in München 1972

Collett und speziell Matthews trugen dazu bei, indem sie sich zunächst nicht beziehungsweise auf widersprüchliche Weise über ihre Aktion äußerten.

"Die Leute versuchen etwas daraus zu machen, obwohl es nichts ist", hatte Matthews kurz nach der Zeremonie den Reportern gesagt, während Collett schwieg. Erst im Nachhinein, in der vertrauensvolleren Atmosphäre eines Einzelinterviews mit dem afroamerikanischen Radiojournalisten Sam Skinner, legten die beiden ihre Motivation klar offen.

Der US-Nationalhymne respektvoll begegnen? „Das kann ich nicht mehr guten Gewissens, so wie die Dinge in unserem Land laufen“, sagte Collett: „Es läuft vieles falsch und ich glaube, das weiße Establishment hat einfach eine zu sorglose Einstellung gegenüber Amerikas Schwarzen. Es interessiert sich nicht für uns - außer, wenn wir sie ein wenig blamieren.“

Matthews ergänzte: "Es wäre geheuchelt von mir, aufrecht zu stehen und mir so etwas wie die US-Nationalhymne anzuhören, wenn ich daran denke, was mein Vater in Amerika durchmachen musste."

Matthews war in New York als Sohn eines aus dem Karibikstaat St. Kitts and Nevis eingewanderten Schneiders in Armut aufgewachsen. Auf dem College erlebte er in North Carolina die dort damals noch geltende Rassentrennung am eigenen Leib - etwa als ihm und seinen Teamkollegen verboten wurde, in einem für Weiße reservierten Burger-Lokal zu essen.

Als er sich dann weigerte, den Burger zu zahlen, den er nur draußen hätte essen dürfen (und das nicht mehr wollte), verhaftete ihn die Polizei.

"Land of the free"? Für Vince Matthews und Wayne Collett ein Hohn

Letztlich war die Botschaft hinter dem Hymnen-Protest von Matthews und Collett doch ganz einfach - und sie ähnelt auf beklemmende Weise der hinter der von Kaepernick ausgelösten Bewegung fast 50 Jahre danach.

Vor dem Hintergrund der alltäglichen Rassismus-Erfahrungen, die schwarze Menschen in Amerika machen, im Lichte der Geschichte von Sklaverei, Rassentrennung und systemischer politischer Benachteiligung kann man es schlicht als Hohn empfinden, sich anhören zu müssen, im "land of the free" und "home of the brave" zu leben.

"Ich konnte da nicht stehen und diese Worte singen, denn ich glaube einfach nicht, dass sie wahr sind", sagte Collett: "Ich wünschte, sie wären es, ich glaube, wir haben das Potenzial, ein wundervolles Land zu sein, aber ich denke nicht, dass wir es sind."

Später erklärte Collett, dass er die Vergleiche mit Smith und Carlos und "diesen ganzen großen Sturm" so nicht gewollt hätte. Er sei schlicht seinen Gefühlen gefolgt.

IOC-Chef Avery Brundage erneut mit trüber Rolle

Was auch nicht zu vergessen ist: Die vermeintlich heile Olympia-Welt, die Matthews und Collett mit ihrem Protest störten, trafen diese negativen Gefühle auch nicht zufällig.

Das IOC wurde damals regiert vom berüchtigten Avery Brundage (von Kritikern gern „Slavery Brundage“ genannt), der schon für Smith und Carlos eine Reizfigur war - und durch die repressiv-ignorante Reaktion auf seine Landsleute eine noch größere wurde.

Brundage, auf dessen Druck hin Smith und Carlos aus dem US-Team geworfen wurden, schmähte die beiden als "gescheiterte Charaktere" mit "verzerrten Geisteshaltungen" und sprach von einer "üblen Demonstration gegen die amerikanische Flagge durch Negros".

Bei den Spielen in München vergrößerte Brundage den Zorn speziell auch der afroamerikanischen Community durch eine weitere Bösartigkeit unter besonders dunklen Umständen: In seiner berühmten "The-Games-must-go-on"-Ansprache nach dem Terror-Anschlag auf das israelische Team setzte er das tödliche Attentat mit den Protesten gegen die Olympia-Teilnahme des rassistischen Apartheids-Staats Rhodesien gleich.

Brundage sprach wenige Tage vor dem Lauf von Matthews und Cole in infamer Weise von "zwei grausamen Angriffen" auf die Spiele - setzte die politische Boykott-Bewegung gegen das heutige Simbabwe also mit dem Mord an elf Menschen gleich.

Logischerweise empfand Brundage da auch Matthews und Collett schlicht als bestrafenswerte Störenfriede. Nachdem die beiden sich einer Entschuldigung verweigerten - trotz Vermittlungsversuchen von Nationalheld Jesse Owens - wurden sie vom IOC für alle weiteren Olympischen Spiele gesperrt.

"Nichts davon war bedrohlich, aber Amerika hat sich bedroht gefühlt"

Collett starb 2010 im Alter von 60 Jahren an Nasenrachenkrebs, der heute 75 Jahre alte Matthews möchte nicht mehr über das Thema sprechen.

„An diesem Punkt meines Lebens halte ich es für richtig, nach vorn und nicht zurück zu blicken“, zitierte ihn die NBC.

Collett und Matthews sind keine Ikonen geworden wie Smith und Carlos, ihre zwiespältige Olympia-Geschichte ist in der Erinnerung überlagert vom Attentat und Heldenstorys wie denen von Rekordschwimmer Mark Spitz. Sie haben nie das Gehör gefunden, das heute zum Beispiel auch LeBron James und seine NBA-Kollegen mit ihrer Unterstützung für die Black-Lives-Matter-Bewegung erreicht haben.

Dabei erzählt die Geschichte der beiden noch immer viel über Wunsch und Wirklichkeit beim Thema Rassismus - und über das Unverständnis und die Widerstände, auf die diejenigen stoßen, die den Finger in die Wunde legen.

„Mr. Kaepernick hat sich hingekniet. Mr. Smith und John Carlos haben unsere Hände in die Luft gehoben. Wayne und Vinny haben an ihren Medaillen gedreht und sich unterhalten“, sagte John Carlos in dem NBC-Bericht: „Nichts davon war bedrohlich, aber Amerika hat sich bedroht gefühlt. Und für alle war das Ergebnis dasselbe.“