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Viele Fragen für Löw

Joachim Löw: Schwerstes Jahr als Nationaltrainer. (Bild: SID)
Joachim Löw: Schwerstes Jahr als Nationaltrainer. (Bild: SID)

Die DFB-Elf steht vor entscheidenden Spielen. Aber 14 Monate nach dem Triumph muss der Weltmeister sich neu erfinden. Die Bestandsaufnahme.

Von Nico Stankewitz

Die Saison 2014/15 war holprig für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Nach den Rücktritten von Lahm, Mertesacker und Klose fehlten der Mannschaft einige zentrale Persönlichkeiten, dazu hatten viele Weltmeister nicht die Form des Vorjahres und zum Teil erhebliche Probleme in ihren Vereinen. Zu Beginn der EM-Spielzeit muss Joachim Löw eine neue Formation finden, nicht nur, um sich gegen Polen, Schottland und Irland in der Qualifikation durchzusetzen, sondern vor allem, um in Frankreich einen ernsthaften Anlauf auf den Gewinn des EM-Titels nehmen zu können.

Wer das Heft im Nationalteam nach den Rücktritten der Weltmeister in der Hand haben soll, ist nicht umstritten: Bastian Schweinsteiger. Fraglich nur, wie gesund und stabil die zuletzt extrem verletzungsanfällige WM-Legende ist – und natürlich, wie er mit der körperlichen und mentalen Drucksituation in der Premier League umgeht. Wenn der 31-Jährige fit ist, ist er der unangefochtene Leader auf dem Platz, außerhalb ist er sowieso beliebt und anerkannt. Vom Naturell und vom Standing ist BVB-Kapitän Mats Hummels der kommende Leader, der nach 2016 die Kapitänsbinde übernehmen könnte.

Ohne Lahm fehlt Deutschland auf den Außenverteidiger-Positionen die Weltklasse. (Bild: SID)
Ohne Lahm fehlt Deutschland auf den Außenverteidiger-Positionen die Weltklasse. (Bild: SID)

Sollbruchstelle Außenverteidiger

Seit Jahren schon sind die Außenverteidiger Problempositionen im deutschen Fußball. Lange gab es nur einen Weltklassespieler auf den Außenbahnen: Philipp Lahm, der rechts und links auf höchstem Level agieren konnte. Seit dessen Rücktritt gibt es keine wirklich überzeugende Lösung mehr, international sind alle Top-Nationen da besser besetzt als wir. Während die Clubs diese Lücken mit Ausländern füllen, muss Löw kreativ sein. Bei der WM in Brasilien entschied er sich für vier Innenverteidiger, bis Lahm wieder nach rechts hinten rückte, hinten links spielte das ganze Turnier hindurch mit Höwedes ein klassischer Innenverteidiger. Gegen Polen setzt er wohl erneut auf Rudy/Hector, mittelfristig dürften die Dortmunder Durm und Schmelzer wieder ein Thema werden.

Interessant auch: Der junge Matthias Ginter lieferte zuletzt zwei starke Spiele als Rechtsverteidiger beim BVB ab. Ein einziger Neuling steht im Aufgebot für die beiden Spiele gegen Polen und Schottland: Emre Can. Der 21-Jährige hat sich beim FC Liverpool durchgesetzt und kann in Abwehr und Mittelfeld alle Positionen spielen. Im Verein hat er sich in der vergangenen Saison als Außenverteidiger etabliert, momentan spielt er im zentralen Mittelfeld. Angesichts der Probleme außen wäre ein Test zumindest mal einen Versuch wert, der Bedarf ist jedenfalls da.

Gerne hat die Nationalmannschaft im vergangenen Jahrzehnt Anleihen bei Bayern München genommen, was System und Personal betraf. Egal ob Louis van Gaal, Jupp Heynckes oder Pep Guardiola – es dauerte selten lange, bis Veränderungen beim FC Bayern auch im DFB-Team sichtbar wurden. In der Zwischenzeit ist das schwierig geworden: Der deutsche Meister setzt auf überragende Außenverteidiger (Lahm/Alaba – hat die DFB-Elf nicht), sehr schnelle und dynamische Flügelspieler (Robben, Robery, Costa zukünftig Coman). Die gibt es so auch nicht, unsere Flügelspieler waren zuletzt meistens Spieler, die sich zentral wohler fühlen wie Müller, Özil, Götze.

Ist Emre Can einer für die Außenverteidigung? (Bild: SID)
Ist Emre Can einer für die Außenverteidigung? (Bild: SID)

Anleihe an Bayern funktioniert nicht mehr

Die können zwar außen spielen, sind aber andere Spielertypen. Und nicht zuletzt hat Bayern mit Robert Lewandowski einen Top-Stürmer, den es in dieser Qualität in Deutschland auch nicht gibt. Die Neuorientierung, wenn man so will „Internationalisierung“ bei Bayern München, macht sich also auch allmählich in der Nationalelf bemerkbar. Die Mittelstürmer-Lücke wird wohl – im Gegensatz zu Bayern - mit einer „falschen 9“ geschlossen, aber dieser „Trend“ hat sich bisher nicht wirklich durchgesetzt. Alle Topclubs beschäftigen hochkarätige Mittelstürmer, egal ob Barcelona, Real Madrid, Chelsea, Man City oder eben Bayern: Alle brauchen die Durchschlagskraft, die von einem wuchtigen zentralen Angreifer ausgeht. Und zur Erinnerung: Weltmeister wurde Deutschland mit Miroslav Klose in der Startelf – unserem letzten Mittelstürmer.

Viele offene Fragen für Joachim Löw, viel mehr, als neun Monate vor einem Turnier gut und normal sind für eine deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Ein Stück weit wird Deutschland sich neu erfinden müssen, um in Frankreich wieder zur absoluten Weltspitze zu gehören. Diese Aufgabe ist für Löw die bisher schwerste seit seiner Amtsübernahme 2006, denn der triumphale Titelgewinn von Brasilien 2014 entstand noch mit dem seit vielen Jahren bewährten und eingespielten Gerüst. Gegen Polen und Schottland beginnt ein äußerst spannendes Fußballjahr für den DFB, man darf gespannt sein, wie es endet.