"So viel Glück hat in Deutschland nur der FC Bayern"

"So viel Glück hat in Deutschland nur der FC Bayern"
"So viel Glück hat in Deutschland nur der FC Bayern"

Als die Bundesliga 50 wurde, gab es viele Bilanzen, Rückblicke und Umfragen. Wie sich das gehört, wenn ein Jubilar auf eine große Erfolgsgeschichte zurückblicken kann.

Das Fachblatt kicker fragte viele, die selbst dabei gewesen waren, nach dem Moment, der sie am meisten in den Bann gezogen hatte. Die häufigste Antwort fiel auf einen Tag im Mai, heute vor genau 20 Jahren, eigentlich aber nur auf vier Minuten. Hier ist die Geschichte dazu:

Es ist der 19. Mai 2001, der letzte Spieltag. Eigentlich ist die Meisterschaft schon entschieden. Titelverteidiger FC Bayern geht mit drei Punkten Vorsprung ins letzte Saisonspiel beim HSV, der Dreizehnter ist. Sie verdanken ihren Vorsprung überaus turbulenten sieben Sekunden am Spieltag zuvor, als zunächst Verfolger Schalke in Stuttgart in Rückstand geraten ist und sie unmittelbar darauf das Siegtor gegen Kaiserslautern erzielen. Die Namen der Torschützen weiß auch noch jeder, der es miterlebt hat. Krassimir Balakov für Stuttgart, Joker Alexander Zickler mit seiner zweiten Ballberührung für Bayern.

Schalke, wegen der besseren Tordifferenz bis zur 90. Minute noch Tabellenführer, fällt fast aussichtslos um drei Punkte zurück. Das dürfte wohl der turbulente Höhepunkt der Saison 2000/01, durch die Daum/Hoeneß-Affäre schon besonders genug, gewesen sein.

Schalkes Abschiedsfeier scheint sich zur Meisterfeier zu entwickeln

Die Bayern stehen vor großen Tagen, vier Tage nach dem Ligafinale wartet das Champions League-Finale gegen Valencia. Auch deshalb dürfen sie in Hamburg nicht verlieren, es wäre der denkbar falscheste Zeitpunkt, einen Tiefschlag zu verkraften.

Aber nur wenn sie verlieren und Schalke zuhause Unterhaching schlägt, ginge die Schale wegen der besseren Tordifferenz nach Gelsenkirchen. Dort sitzt Liga-Präsident Werner Hackmann mit dem Duplikat, DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder dagegen mit dem Original in Hamburg zwischen Franz Beckenbauer und Karl-Heinz Rummenigge auf der Tribüne, Präsident und Vize-Präsident der Münchner. Es ist ein langweiliger Nachmittag, nichts deutet auf ein historisches Drama hin. 55.280 Zuschauer sehen ein zähes Spiel, Bayern verwaltet das 0:0 und die Schalker zeigen Nerven. Schnell liegen sie sensationell mit 0:2 zurück, gleichen zwar aus, aber zur Halbzeit ist Bayern noch immer Meister, mit drei Punkten Vorsprung.

Nach 70 Minuten fällt auf Schalke gar das 2:3, Unterhaching hilft sich im Abstiegskampf selbst und dem großen Nachbarn. Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld rennt an den Spielfeldrand und ruft Kapitän Stefan Effenberg zu: "Stefan, spielt so cool weiter. Dann passiert hier nichts und wir sind Meister." Er vertraut seinem Talisman, dem ihm ein Rentner drei Wochen zuvor beim Training geschenkt hat: eine 70 Jahre alte Bronzemünze – seitdem hat Bayern zweimal in Folge kurz vor Schluss gewonnen: erst in Leverkusen (1:0) durch ein Tor von Roque Santa Cruz (87.), dann gegen Kaiserslautern (2:1). Es wird 17 Uhr, nun nimmt das Drama seinen Lauf.

In Gelsenkirchen dreht sich der Wind, Jörg Böhme schießt binnen 89 Sekunden zwei Tore, um 17.01 Uhr ist Schalke nur noch einen Punkt hinter Bayern. Um 17. 15 Uhr erhöht Ebbe Sand gar auf 5:3, der Sieg ist gesichert. Es ist das letzte Tor im Parkstadion, danach zieht Schalke um in eine schmucke Arena in Sichtweite. Wird die Abschiedsfeier gar zur Meisterfeier? Um 17.16 Uhr und 29 Sekunden will es die ganze königsblaue Gemeinde glauben.

Rummenigge: "Es ist gelaufen"

Denn Hamburgs Sergej Barbarez steigt nach einer Flanke von Marek Heinz hoch und köpft das 1:0 – nach 89 Minuten und fünf Sekunden. Es ist sein 22. Saisontor und die Antwort auf Ebbe Sand, der Sekunden davor schon auf 22 gekommen ist. Barbarez zieht sein Trikot über den Kopf und jubelt ausgelassen, wofür er sich heute etwas schämt. "Dafür möchte ich mich bei den Bayern entschuldigen", ist im eigens zum Jubiläum erschienenen Fußball-Magazin "Mehr als ein Spiel" zu lesen.

Die Bayern sind konsterniert, Fatalismus macht sich auf Bank und Tribüne breit. Vize Rummenigge sagt zu Präsident Beckenbauer: "Es ist gelaufen." Premiere-Kommentator Hansi Küpper prophezeit schon: "Der Deutsche Meister im Jahre 2001 heißt Schalke 04." Das Fernsehen zeigt Bayern-Fans, die nicht mehr hingucken können, die Hände vors Gesicht geschlagen. Torwart Oliver Kahn fasst sich als erster, erkundigt sich bei Schiedsrichter Markus Merk nach der Nachspielzeit – zunächst drei Minuten – und treibt seine Kollegen nach vorne: "Weiter machen, immer weiter machen". Diese Worte werden legendär und später gerne zitiert, wenn jemand das Bayern-Gen erklären will.

17.18 Uhr. In Schalke wird zuerst abgepfiffen und die Stadionregie löst wie geplant ein Feuerwerk aus. Es wird als Startsignal für die Meisterfeier gedeutet, Tausende Fans strömen auf den Rasen und in der Kabine kreisen schon die Bierflaschen. Premiere-Fieldreporter Rolf "Rollo" Fuhrmann glaubt nun auch, dass Schalke Meister ist und verkündet im Interview mit Sportdirektor Andreas Müller: "Es ist zu Ende in Hamburg. Schalke ist Meister." Bloß weil ihn per Funk aus dem Ü-Wagen keine gegenteilige Nachricht ereilt hat, aber eben auch keine Bestätigung. Das hat fatale Folgen. Manager Rudi Assauer rastet vor Glück aus, die Fans stürmen zu Tausenden den Rasen.

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Andersson macht sich unsterblich

Doch in Hamburg wird noch gespielt und sie beginnen zu ahnen, dass sie sich zu früh gefreut haben könnten. Denn von der Anzeigetafel flimmern bewegte Bilder aus Hamburg. 17.19 Uhr: Hamburgs Tomas Ujfalusi spielt in Bedrängnis den Ball zu Torwart Mathias Schober zurück und dieser nimmt ihn mit den Händen auf. Seit 1992 ist das strafbar, sofern eine Absicht erkennbar ist.

Schiedsrichter Merk erkennt eine, Schobers noch heute konträre Meinung ist da nicht maßgeblich. Schober, ausgerechnet eine Schalker Leihgabe, sagt damals: "Ich hätte nie gedacht, dass das ein Rückpass war. Es war ein Gestochere." Eigentlich will er nur "Ruhe ins Spiel bringen". Das genaue Gegenteil ist der Fall. Für Merk ist der Fall klar: Bei Absicht sieht die Regel einen indirekten Freistoß vor und er zweifelt nicht: "Ich habe den Schock in Schobers Gesicht gesehen. Er wusste, dass er einen Bock geschossen hat. Dass die Schalker eine andere Auffassung haben, nehme ich ihnen nicht übel."

Dennoch wird er nie wieder ein Schalker Spiel pfeifen. Eine kluge Entscheidung. Als er zehn Jahre (!) später als TV-Experte nach Schalke kommt, wird er mit Bierbechern beworfen.

Doch Merk führt die Meisterentscheidung 2001 nicht allein herbei. Der heimliche Meistermacher trägt Handschuhe: Oliver Kahn nutzt die 80-sekündige Unterbrechung bis zur Ausführung und eilt nach vorne, rempelt HSV-Spieler an, rüttelt alle auf und will in seinem Übereifer sogar den Freistoß schießen. Effenberg weist ihn irritiert ab: "Nein, nein, bleib ruhig und lass den Patrik ran." Patrik Andersson, ein Schwede, ein Verteidiger, kein Stammspieler, ein Mann ohne ein einziges Tor in zwei Jahren München, wird in diesem Moment unsterblich.

Dabei will es der ganze HSV verhindern, acht Hamburger haben sich kurz vor der Linie platziert, drei binden Gegenspieler. Im Strafraum befinden sich außer dem zurückbeorderten Kahn alle 22 Spieler. Die Distanz beträgt zehn Meter und Effenberg denkt sich: "Der kann eigentlich gar nicht rein gehen." Er geht rein, obwohl Andersson zugibt: "Ich habe keine Lücke gesehen, sondern wollte den Ball einfach nur durchpressen. Mit Gewalt eben."

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"So viel Glück hat in Deutschland nur der FC Bayern"

Manchmal ist es eben doch die beste Lösung – flach zwischen Barbarez und dem eingewechselten Andreas Fischer hindurch rauscht der Ball ins Netz. Die Uhr zeigt 17. 20: 56. Es spielen sich wilde Szenen ab, Bayerns Jubel dauert fast zwei Minuten. Sie fallen vor Freude übereinander her, bilden einen Jubelpulk aus Leibern in Rot. Kahn reißt die Eckfahne raus und stemmt sie am Boden liegend wie eine Trophäe gen Himmel. Eine legendäre Szene. Manuel Neuer wird das acht Jahre später nach einem Schalker Sieg in München genüsslich imitieren und bitter bereuen, weil es ihm Stress mit den Bayern-Ultras einbringt, als er 2011 nach München wechselt.

Premiere-Kommentator Hansi Küpper wird derweil geradezu pathetisch: "Und ich glaube, liebe Fußballfreunde, wenn Sie den letzten Spieltag und das, was hier passiert ist, zusammennehmen, dann werden Sie mir recht geben: Es gibt auf dieser Welt nichts Geileres als Fußball."

Auch damit hat er Recht. Während Oliver Kahn um 17.34 Uhr die Schale zum dritten Mal in Folge in Empfang nehmen kann und sie mit den Kult gewordenen Worten "Da ist das Ding" gen Himmel reckt, müssen auf Schalke Tränen getrocknet werden.

Nach exakt 4:38 Minuten trügerischer Sicherheit ist die Meister-Party beendet und Manager Rudi Assauer schwört dem Fußball-Gott ab: "Wenn er gerecht wäre, dann wäre Schalke Meister geworden." In der Kabine, wo die Spieler die letzten Minuten auf einem Fernsehbildschirm verfolgen, geht einiges Mobilar kaputt. Gerald Asamoah flüchtet in einen Nebenraum, er kann es nicht mitansehen, aber hören muss er doch: "Es knallte, es schepperte, es klirrte. Laute Flüche, alles wild durcheinander. Da wusste ich, was passiert war."

Begreifen kann es aber bis heute keiner. Einen inoffiziellen Titel immerhin verleihen ihnen die Fans: "Meister der Herzen" steht schon vor dem Spiel auf einem Transparent, die Medien greifen es auf, es wird Teil der Schalker DNA. Zur Bayern-DNA gehört der Dusel, das können sie spätestens seit diesem Tag nicht mehr von der Hand weisen. "So viel Glück hat in Deutschland nur der FC Bayern", sagt Stürmer Giovane Elber. Franz Beckenbauer gesteht freimütig nach einer Saison mit neun Niederlagen und den wenigsten Punkten, die je ein Meister geholt hat: "Es ist ein Wunder, dass wir wieder Meister geworden sind."

Umso ausgelassener möchten sie feiern, dürfen aber nicht. "Im Restaurant Seehaus erinnerte unsere Meisterfeier eher an ein besinnliches Familientreffen zu Weihnachten", verrät Effenberg in einer Serie der Bild-Zeitung. Verständlich, der Höhepunkt des Jahres kommt noch. Am Mittwoch, dem 23. Mai, treffen die Bayern in Mailand im Finale der Champions League auf den CF Valencia. Wieder so ein Drama, und wieder werden sie am Ende trotz eines 1:1 gewinnen. Vier Tage, die Bayern-Fans nie vergessen werden.

So wie die Schalker die vier Minuten, einst im Mai 2001.