"Nübels Entscheidung habe ich nicht verstanden"

Stefan Wessels hat beim FC Bayern mehr Champions-League-Spiele als Bundesliga-Partien absolviert.

Der frühere Torwart war von 1999 bis 2002 die Nummer 2 hinter Oliver Kahn. Seit 2021 ist Wessels Torwarttrainer bei der deutschen U19-Nationalmannschaft.

Im SPORT1-Interview spricht der 44-Jährige über seine Zeit beim Rekordmeister und die Torwartsituation in Deutschland.

SPORT1: Herr Wessels, Sie kamen am 21. September 1999 unverhofft zu Ihrem Debüt in der Champions League bei den Glasgow Rangers. Mit 20 Jahren waren Sie der jüngste deutsche Torhüter in der Königsklasse. Was war das für ein Gefühl?

Stefan Wessels: Es war unbeschreiblich. Das kam damals über Nacht total überraschend für mich. Vor einigen Jahren hat mich Bernd Leno dann als jüngster Torwart in der Königsklasse abgelöst (lacht).

Kurioser Weg zum CL-Debüt: „Ein Wahnsinn“

SPORT1: Wie kam es dazu? Sie spielten damals bei den „kleinen“ Bayern.

Wessels: In der Vorbereitung hatte sich Sven Scheuer langfristig verletzt. Ich durfte dann bei den Profis oft mittrainieren, aber ich gehörte ganz klar zum Kader der Amateure. Dort lief es für das Team und mich nicht so prickelnd. Ich saß dann bei einem Spiel in Wehen am Freitagabend auf der Bank, bin am gleichen Abend zu meinen Eltern ins Emsland gefahren, sonntags sollte ich mit der U21 in den Oman fliegen. Doch dann kam alles anders.

SPORT1: Erzählen Sie mal…

Wessels: Am Samstagabend saß ich bei meinen Eltern auf der Couch und plötzlich kam der Anruf von Michael Henke (damaliger Co-Trainer des FC Bayern, d. Red.), ich solle am nächsten Morgen nach München zum Training kommen. Also stand ich um 10 Uhr auf dem Trainingsplatz bei den Profis und die Reise mit der U21 fiel für mich aus. Olli und Bernd Dreher mussten verletzt passen. Ein Wahnsinn! So kam ich von der Couch in die Champions League. Das war mein Bayern-Märchen.

„Ter Stegen hat sich wahnsinnig entwickelt“

SPORT1: Kommen wir zur aktuellen Torwartsituation in Deutschland. Wie bewerten Sie diese?

Wessels: Seit ich denken kann, hatten wir auf der Torwartposition keine Probleme. Es gab immer herausragende Torhüter. Okay, Sepp Maier spielte noch vor meiner Zeit, aber Köpke, Kahn und Lehmann waren alles starke Keeper. Jetzt ist die Situation durch die Verletzung von Manuel Neuer eine andere. Keiner weiß, wie lange er wirklich ausfällt. Für ihn ist die Situation sehr unschön. Aber Marc-André ter Stegen hat sich wahnsinnig entwickelt und gehört für mich zu den besten Torhütern der Welt. Aktuell müssen wir uns keine Sorgen machen, falls Manu noch länger ausfällt. Für die nächsten Jahre sind wir da gut aufgestellt.

SPORT1: Das klingt so, dass Sie ter Stegen als die kommende Nummer 1 ansehen. Gibt es jetzt eine Wachablösung?

Wessels: Das weiß ich nicht. Alles hängt von Manus Genesung ab. Wenn er sein altes Leistungsniveau erreichen sollte, dann ist er immer noch ein Weltklasse-Torwart. Deshalb würde ich jetzt nicht von einer Wachablösung sprechen. Es ist nun eine Riesen-Chance für ter Stegen. Er kann mehr Spiele machen. Das ist das Los des Torhüters, das habe ich in meiner Karriere auch oft erlebt. Es kann nur ein Torwart spielen. Und wenn man sich ein gewisses Standing erarbeitet hat, dann spielt man. Es ist aber auch legitim zu sagen, dass Manu durch seine Verletzung nicht seinen Status verloren hat. Natürlich muss er seine Leistung bringen. Wenn Manu wieder fit ist, wird er beim FC Bayern wieder eine ganz große Rolle spielen.

SPORT1: Andreas Köpke sagte zuletzt im SPORT1-Interview, dass er sich Sorgen macht, weil nach Neuer, Trapp und Co. nichts nachkommt. Wie sehen Sie es?

Wessels: Das sehe ich wie Andi, da gibt es ein großes Fragezeichen. Aktuell ist die Situation noch in Ordnung, aber wir sehen das beim DFB durchaus als Herausforderung. Es gibt das Projekt N28. Welcher Keeper steht 2028 im Tor der Nationalmannschaft? Ter Stegen wird dann 36 sein und Neuer wird mit 42 eher nicht mehr im Kasten stehen. Wir haben durchaus einige Aufgaben im Nachwuchsbereich zu lösen, da es den Torhütern an Spielpraxis auf höchstem Niveau mangelt. Wir müssen unsere Torhüter dahin entwickeln, dass wir weiter die Torwart-Nation schlechthin sind. Da wird gerade viel in diese Richtung initiert und es bewegt sich einiges. Die Jungs sind top ausgebildet, aber im Übergang zum Herrenbereich wird es schwierig. Wir kämpfen darum, dass es besser wird.

„Wir sind nicht mehr die Torhüternation schlechthin“

SPORT1: Es gibt in der Bundesliga gerade viele ausländische Torhüter. Wo gibt es Grund zur Hoffnung?

Wessels: Wenn die jungen Keeper hochkommen, haben sie es schwer, Spielpraxis zu bekommen. Sie spielen oftmals in der Regionalliga. Aktuell sind in der 2. Liga mit Jonas Urbig von Jahn Regensburg und Tim Schreiber von Holstein Kiel zwei Torhüter aus meinem U20-Jahrgang Stammtorhüter, das ist eine gute Entwicklung. In der 3. Liga spielen beim SC Freiburg II Noah Atubolu und beim Halleschen FC Felix Gebhardt. Es entwickelt sich also gerade etwas. Ich finde es schön, dass zwei U20-Torhüter in der 2. Liga spielen.

SPORT1: Deutschland ist für Sie kein Torwartland mehr?

Wessels: Wir sind nicht mehr die Torhüternation schlechthin. Leider. Da muss man sich nur die Bundesliga anschauen. Selbst Alex Nübel muss den Umweg über Monaco gehen. Es ist nicht so selbstverständlich, dass man sagt: ‚Okay, da kommt einer.‘ Nichtsdestotrotz glaube ich, dass wir aktuell viele Stellschrauben drehen, damit Deutschland wieder die Torhüter-Nation schlechthin wird.

„Über Nacht erfüllte sich mein Traum bei Bayern“

SPORT1: Lassen Sie uns über Ihre Zeit beim FC Bayern sprechen. Ottmar Hitzfeld war drei Jahre Ihr Trainer beim FC Bayern. War er wirklich immer der Gentleman oder gab es auch mal krasse Momente?

Wessels: Überhaupt nicht. Ich habe in München nur mit Hitzfeld zusammengearbeitet, auf meinen anderen Stationen danach habe ich dann andere Trainer kennengelernt. Die ganz große Stärke von Hitzfeld war, dass er genau wusste, wie er die Mannschaft führen muss. Es gab nie einen Ausraster von ihm. Für die Emotionalität war eher Michael Henke zuständig. Hitzfeld war auch fachlich top. Er konnte authentisch Vertrauen vermitteln. Bei ihm war jeder Spieler zufrieden. Bei anderen Trainern haben wir vielleicht vielfältiger trainiert, das war bei Bayern aufgrund der ganzen Spiele so nicht möglich. Hitzfeld konnte authentisch Vertrauen vermitteln. Bei ihm war jeder Spieler zufrieden.

SPORT1: Sie waren Nummer 2 hinter Oliver Kahn. Wie blicken Sie zurück?

Wessels: Absolut positiv. Über Nacht erfüllte sich mein Traum bei Bayern. Mir hat damals total gut getan, Ottmar Hitzfeld als Trainer zu haben. Er war ein Segen für einen Spieler. Hitzfeld muss Bammel gehabt haben, mich in der Champions-League ins Tor zu stellen, schließlich saß ich drei Tage vorher in der 3. Liga nur auf der Bank. Aber er hatte mir das absolute Vertrauen geschenkt. Für mich war klar, dass ich hinter Olli die Nummer 2 war. Ich war dankbar, dass ich einige Spiele machen durfte. Ich habe für Bayern mehr Champions-League-Spiele als Bundesliga-Spiele absolviert. Ich werde immer noch auf mein erstes Spiel angesprochen, weil ich dadurch enorme Aufmerksamkeit erregt hatte. Es waren fünf spannende Jahre für mich. Mit Matthäus, Effenberg, Kahn usw. zusammenzuspielen, war einfach grandios und prägend für mich. Nach den fünf Jahren bin ich zum 1. FC Köln gewechselt. Uli Hoeneß wollte damals gerne mit mir verlängern, aber ich war ehrgeizig, wollte mich weiterentwickeln und vor allem spielen.

SPORT1: Haben Sie Alex Nübel verstehen können, dass er von Schalke zu Bayern wechselte?

Wessels: Nübels Entscheidung habe ich nicht verstanden. Ich weiß nicht, ob ihm Hoffnungen auf Einsätze gemacht wurden, aber für mich kam dieser Schritt zu früh. Nach einem Jahr hat er diesen korrigiert. Für mich war klar, dass Nübel bei Bayern nicht regelmäßig spielen wird, solange Manuel Neuer bei Bayern ist. Spielpraxis ist gerade in jungen Jahren so wichtig. Mit Monaco hat Nübel aber einen richtig guten Klub gefunden, bei dem er sich weiterentwickeln kann.

SPORT1: Ist Nübel momentan der einzige Torwart, der Hoffnung macht?

Wessels: Wenn man sich das Gesamtpaket anschaut, steht er rein auf dem Papier ganz oben bei Neuers möglichen Nachfolgern.

„Für Olli und Brazzo waren das sicher schwere Tage“

SPORT1: Wie nervig war es damals für Sie Nummer 2 hinter dem Titan zu sein?

Wessels: Nervig war es nicht, so ist das Profigeschäft. Ich war total dankbar, bei Bayern spielen zu dürfen. Ich habe mir von Olli ganz viel abschauen dürfen und ich konnte für meine aktive Laufbahn, wie auch jetzt als Torwarttrainer beim DFB, so einiges mitnehmen. Olli und ich waren Konkurrenten, obwohl die Fronten natürlich geklärt waren. Es war eine tolle Zeit.

SPORT1: Was glauben Sie ging in Kahn vor, als er von Neuers Ski-Unfall hörte?

Wessels: Er war sicher nicht happy darüber. Aus Vereinssicht war das der worst case. Zum einen verlierst du für längere Zeit den besten Torhüter und weißt nicht, wann und ob er überhaupt zurückkommt. Olli sah daher bestimmt die Saisonziele in Gefahr. Auf der Torwart-Position waren die Bayern nach dem Ausfall dünn aufgestellt. Für mich war klar, dass jemand Neues kommen wird. Für Olli und Brazzo (Hasan Salihamidzic, d. Red.) waren das sicher schwere Tage. Sie mussten dann auch tief in die Tasche greifen, um mit Yann Sommer eine sehr gute Lösung zu finden. Es ist immer schwer, im Winter gerade auf der Torwart-Position für Ersatz zu sorgen.

„Neuer hat dieses Interview ganz bewusst gegeben“

SPORT1: Sehen Sie für Neuer noch eine Zukunft beim FC Bayern?

Wessels: Ganz klar ja - wenn Manu wieder komplett fit wird. Es war sehr unglücklich, aber er ist ein Profi und wenn sein Körper es irgendwie mitmacht, dann glaube ich, dass sich das wieder einrenkt. Neuer wird eine Zukunft bei Bayern haben - wenn er wieder fit wird.

SPORT1: Wie denken Sie über das Interview von Neuer?

Wessels: Es war ein authentisches Interview. So wie ich Manu einschätze, ist er sehr reflektiert und hat dieses Interview ganz bewusst gegeben. Er wusste auch, was es für einen Aufschrei geben wird. Er hat starke Worte gewählt. Ich kann mich in Manu reinversetzen. Er wurde öffentlich angezählt, weil er Skifahren war. Manu hat sich bestimmt selbst auch Vorwürfe gemacht. Und dann muss er auch noch erfahren, dass sein Torwarttrainer beurlaubt wurde. Und diese Trennung passierte zu einem total unglücklichen Zeitpunkt. Dass das dem Verein nicht passt, verstehe ich aber auch.

SPORT1: Was haben Sie am meisten von Oliver Kahn angenommen?

Wessels: Seine Professionalität. Als junger Spieler zu sehen, wie professionell Olli sich vorbereitet, war klasse. Seine Verbissenheit war seine Stärke. Ich war nicht ganz so verbissen wie er. Bei Olli war es noch eine Schippe mehr, das hat ihn aber auch so stark gemacht. Ich habe mir einiges abschauen können.

SPORT1: Warum fehlt Kahn diese Verbissenheit als Vorstandsboss? Da wirkt er immer noch etwas zurückhaltend. Da ist er nicht der Titan.

Wessels: Olli war auf dem Platz der Titan, der auch mal über die Stränge schlug. Wenn man mit ihm persönlich gesprochen hat, war er auch damals schon sehr reflektiert und meinungsstark. Intern wird er in seiner jetzigen Position die Dinge mit Sicherheit ganz klar ansprechen. Deshalb ist er für den Job des Vorstandsvorsitzenden meiner Meinung genau richtig. Die Journalisten wünschen sich natürlich mehr den Uli Hoeneß. (lacht)

Wessels verrät seine besondere Bayern-Anekdote

SPORT1: Gibt es eine besondere Bayern-Anekdote?

Wessels: Die gibt es. Ich erinnere mich immer wieder gerne an ein Training mit Sepp Maier. Wir standen alleine auf dem Platz und er hatte gerne seinen Hund Batzenhofer dabei, wenn wir alleine trainiert haben. Der durfte dann auch über den Rasen laufen und Sepp war zufrieden. Irgendwann war Batzenhofer aber weg. Sepp sagte dann zu mir: ‚Ich schaue mal nach ihm.‘ Ich habe gewartet, aber Sepp kam nicht wieder. Nach 15 Minuten bin ich dann reingegangen und habe nachgefragt, wo Sepp ist. Dann erfuhr ich, dass Batzenhofer auf die Straße gelaufen war und von einem Auto angefahren wurde. Sepp fuhr mit ihm kurzerhand in die Tierklinik. Übrigens, der Hund hat überlebt und wurde wieder gesund.

SPORT1: Bitte legen Sie sich mal fest. Wer steht bei der Heim-EM 2024 im deutschen Tor?

Wessels: Manuel Neuer. Weil ich glaube, dass Manu wieder richtig fit wird und auf seinem Zenit zurückkommt. Er hat sich im vergangenen Jahrzehnt so viel erarbeitet, dass er dann einfach wieder die Nummer 1 sein wird.