Warum entschuldigen wir uns immer noch, wenn wir weinen?

Warum denken wir immer noch, uns entschuldigen zu müssen, wenn wir weinen? Foto: Getty Images
Warum denken wir immer noch, uns entschuldigen zu müssen, wenn wir weinen? Foto: Getty Images

Wer von euch hat schon einmal in der Öffentlichkeit geweint und dann direkt das Wort „Entschuldigung“ folgen lassen?

Das sind wahrscheinlich die meisten von uns.

Egal ob du einen besonders stressigen Tag bei der Arbeit hattest, der dir aus Frust die Tränen in die Augen treibt oder eine Aussprache mit einem Freund oder einer Freundin hast, die deine Tränendrüsen auf Hochtouren laufen lässt – es ist sehr wahrscheinlich, dass du nach dem Weinen vor anderen Menschen direkt eine Entschuldigung gemurmelt hast.

Ein Paradebeispiel: Sir Michael Palin.

Während eines emotionalen Fernsehinterviews zu seinem verstorbenen Freund Terry Jones, der am Dienstag nach einem langen Kampf gegen die Demenz im Alter von 77 Jahren verstarb, brach Palin in Tränen aus und entschuldigte sich danach dafür.

“Wir waren viele, viele Jahre lang unzertrennlich”

Michael Palin bei seinem emotionalen Tribut an seinen Monty Python-Kollegen Terry Jones, der im Alter von 77 Jahren verstorben ist. Er nannte ihn einen der „lustigsten Schreiber und Performer seiner Generation“ http://bbc.in/2RK8HiO

Aber warum verspürte er das Bedürfnis, sich zu entschuldigen?

Weinen ist ein Teil des normalen, alltäglichen Lebens. Es ist etwas, was wir alle tun, besonders wenn wir um einen verstorbenen Freund trauern. Also warum verspüren wir das Bedürfnis, uns dafür zu entschuldigen?

Laut Natasha Bray, Coach für schnelle Transformation und Psychologie-Expertin, müssen wir zurück in unsere Kindheit blicken und versuchen zu verstehen, warum wir glauben, uns für unser Schluchzen entschuldigen zu müssen.

„Wenn wir als Kinder weinen, kann es sein, dass man uns sagt, wir sollen ein „großes Mädchen“ oder ein „großer Junge“ sein und aufhören zu weinen“, erklärt sie.

„Vielleicht wurden wir sogar wegen unserer Tränen angeschrien, wenn unsere Eltern oder die Anwesenden Erwachsenen Probleme hatten, die Situation in den Griff zu bekommen. Eltern sind auch nur Menschen.“

Bray sagt, dass es außerdem verwirrend sein kann, wenn wir gelobt oder nett behandelt wurden, weil wir mit dem Weinen aufgehört haben.

„Wir lernen von einem sehr jungen Alter an, dass Weinen nicht erlaubt ist und dass das Nichtweinen belohnt wird, was heißt, dass unser Gehirn zu glauben beginnt, dass es „nicht sicher“ ist, zu weinen und dass „Weinen ein Zeichen von Schwäche“ ist.

„Daher empfinden wir Tränen auf gewisse Weise als etwas “Schlechtes“ und das, was wir als Kind geglaubt haben, beeinflusst uns immer noch als Erwachsene, weshalb wir denken, uns entschuldigen zu müssen, wenn wir weinen.“

Besonders Männer meinen, sich entschuldigen zu müssen, wenn sie weinen. Foto: Getty Images
Besonders Männer meinen, sich entschuldigen zu müssen, wenn sie weinen. Foto: Getty Images

Dr. Earim Chaudry, Medizinischer Leiter von “Manual” glaubt, dass besonders Männer das Bedürfnis verspüren, auf ihre Tränen eine erklärende Entschuldigung folgen zu lassen.

„Von sehr jungem Alter an wird Jungen beigebracht, dass Tränen ein Zeichen von Versagen und der Unfähigkeit sind, die eigenen Emotionen unter Kontrolle zu halten“, erklärt er.

„Das gesellschaftliche Konstrukt von Männlichkeit besteht aus Gleichgültigkeit, Kontrolle und einem trockenen Gesicht. Allgemein gesagt sollten Männer nie Zeichen von Schwäche und Verletzlichkeit zeigen und – am wichtigsten – niemals auch nur eine Träne vergießen, denn das passt nicht zu dem Bild, was wir von „Männlichkeit“ haben.“

Das größte Problem ist laut Dr. Chaudry, dass das Weinen immer noch – insbesondere bei Männern - als ein Zeichen von Schwäche angesehen wird.

„Männern wurde beigebracht, dass Weinen bedeutet, dass du deinen emotionalen Schutzschild fallenlassen hast und du gezeigt hast, dass du auch Schwächen hast“, sagt er.

„Wenn wir das Wort ‚Schwäche‘ hören, verbinden wir es mit Versagen und einer nicht enden wollenden Liste negativer Eigenschaften.“

Aber tatsächlich ist das Weinen an sich ein Zeichen für eine ganz andere Eigenschaft.

„Lustigerweise zeigen Tränen auch anderen Menschen, dass wir verletzlich sind und Verletzlichkeit ist sehr wichtig für die Bindung zwischen Menschen. Dieselbe Sache, die es uns ermöglicht, Beziehungen mit anderen einzugehen und wahre, ungefilterte Verletzlichkeit auszudrücken, ist mit Scham behaftet und wird Männern von einem sehr frühen Alter an ausgetrieben.“

Dr. Stephanie Cook, Dozentin für Psychologie an der De Montfort Universität in Leicester glaubt, dass ein anderer Grund fürs Entschuldigen ist, dass es gegen soziale Normen verstößt.

Es kann sehr gesund sein, sich einmal richtig auszuheulen. Foto: Getty Images
Es kann sehr gesund sein, sich einmal richtig auszuheulen. Foto: Getty Images

„Es hängt damit zusammen, dass wir nicht wollen, dass sich die Person, mit der wir zusammen sind, unwohl fühlt“, erklärt sie.

„Wenn wir uns in sie hereinversetzen, wissen wir, dass von ihnen erwartet wird, uns zu trösten, wenn wir weinen. Daher haben wir das Bedürfnis, uns für die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen.

Aber ein intensives Weinen kann so viele Vorteile haben.

„Weinen ist für uns wichtig, da wir so unsere Emotionen herauslassen können“, erklärt Bray. „Wenn wir unsere Emotionen immer für uns behalten, führt das zu betäubenden Verhaltensweisen wie Frustfressen, übermäßigem Trinken von Alkohol oder sogar Kaufrausch, was unsere emotionale Gesundheit beeinträchtigen kann.“

„Wir müssen auch zukünftigen Generationen zeigen, dass es absolute in Ordnung ist, Emotionen durch Weinen auszudrücken, und den Kreislauf zu durchbrechen, der uns auferlegt wurde.“

Und wir sollten uns natürlich niemals für etwas entschuldigen, was ganz natürlich ist.

„Du würdest dich auch nicht bei jemandem dafür entschuldigen, dass du glücklich, enttäuscht oder aufgeregt bist, also solltest du dich auch nicht fürs Traurigsein entschuldigen müssen“, fügt Dr. Chaudry hinzu.

„Weinen ist etwa sehr intensives. Es ermöglicht uns zu fühlen, herauszulassen, zu heilen und Fortschritte zu machen.“

Wenn dir also beim nächsten Mal unerwartet die Tränen in die Augen schießen, entschuldige dich bitte nicht dafür.

Weinen ist etwas Positives. Stehe zu deinen Tränen.

Marie Claire Dorking