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"Drive to Survive" - die Formel 1 vollkommen unzensiert

Die letzten zwei Tage bin ich fremdgegangen. Geschwächt vom vielen Fußballdoku-Gucken, habe ich einfach mal eine andere Sportart an mich rangelassen. Ich habe es nicht bereut.

Ich muss vorweg anmerken, dass ich kein Formel-1-Fan bin. Oder war. Obwohl ich mich Sportjournalist nenne, habe ich in meinem ganzen Leben erst zweimal eine Rennstrecke besucht: den Norisring (DTM) und Spa in Belgien (Formel 1).

Und selbst das nicht richtig: In Spa war ich nur an einem trainingsfreien Tag, um Sebastian Vettel einen Preis zu überreichen. Das war 2009, und Vettel war noch nicht mal Weltmeister. Ich erinnere mich kaum, was er mir über Motorsport erzählte, aber ich weiß noch genau, dass wir über Eintracht Frankfurt redeten, seinen Lieblingsfußballklub.

Was mir damals auffiel: Wie offen die Leute im Formel-1-Fahrerlager sind. Ich konnte herumgehen und mit allen sprechen, die Atmosphäre war ganz anders als beim Fußball, wo du Angst haben musst, festgenommen zu werden, wenn du einen Profi ansprichst, ohne vorher einen Termin mit vier Kommunikationsberatern ausgemacht zu haben.

Du siehst, wie sich Ricciardo und Verstappen bekriegen

Diesen positiven Eindruck hatte ich im Hinterkopf, als ich die erste Staffel von "Drive to Survive" anschaltete, die von der Formel-1-Saison 2018 handelt. Die zehnteilige Doku läuft auf Netflix und ist der Knaller.

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Warum? Weil du mitfährst. Mitfieberst. Mithasst. Mitbangst. Du bist quasi bei allen wichtigen internen Besprechungen der gefilmten Rennställe dabei. Ungeschnitten. Unzensiert. Du lernst die Fahrer ganz nah kennen, selbst in Krisensituationen lassen sie sich filmen.

Du bekommst mit, wie sich Daniel Ricciardo und Max Verstappen im Red-Bull-Team bekriegen, du hörst, wie Haas-Teamchef Günther Steiner nach einem schlechten Rennen seine beiden Fahrer beleidigt. Und als er am Telefon zu seinem Chef "We look like a fucking Bunch of Wankers" sagt, stehst du direkt hinter ihm und lachst dich tot.

Das F-Wort wird übrigens so oft benutzt in der Formel 1, dass ich inzwischen glaube, es gibt dafür Punkte in der Teamwertung.

Auch Ferrari bei zweiter Doku dabei

Du siehst und hörst in der Doku auch genau, dass sich Renault-Sportchef Cyril Abiteboul und Red-Bull-Boss Christian Horner abgrundtief hassen, obwohl der eine dem anderen die Motoren liefert. Das Ganze ist so derb und ungeschminkt, dass es dir schon beim Zusehen peinlich ist. Die beiden machen null Hehl aus ihrer Abneigung, und solche Szenen machen die Doku einzigartig.

Die zweite Staffel handelt übrigens von der Formel-1-Saison 2019 und ist gerade angelaufen. Sie ist genauso gut, und diesmal werden auch Ferrari, also vor allem Vettel, und Mercedes, die sich 2018 sperrten und das bestimmt hart bereut haben, begleitet.

Ich gestehe, dass mir diese zwei Staffeln den Motorsport zum ersten Mal richtig nahegebracht haben. Ich bin schon sehr gespannt auf die Doku zur Saison 2020, wenn sie denn jemals gefahren werden sollte.

Und falls nicht: Ich fahre jetzt selbst Formel 1 - also auf dem iPad.

Sehe meine Werkstatt mit ganz neuen Augen

Bevor ich mich für die nächste Kolumne wieder aufs Sofa setze und dem Fußball zuwende, noch ein aktueller Tipp: Die Porsche-Doku "Endurance" über die 24-Stunden-Rennen von Le Mans und auf dem Nürburgring, die 2019 innerhalb einer Woche stattfanden. Wie "Drive to Survive" irre nah dran, Freude pur. Tagfahrten, Nachtfahrten, Crashs, Pannen, Angst, Schweiß, Triumph - auch diese Doku lässt dich kurz vergessen, dass es gerade keinen Livesport gibt.

Außerdem sehe ich meine Autowerkstatt mit ganz neuen Augen, seit ich weiß, dass man eine komplette Auspuffanlage innerhalb von 20 Minuten aus- und wieder einbauen kann.

Die 91-Minuten-Doku läuft übrigens kostenlos auf YouTube - und zwar nicht im üblichen Ruckel-Kästchen-Modus, sondern gestochen scharf.

- "Drive to Survive" - 2019, 2020, Netflix (2 Staffeln)
- "Endurance - The Documentary about Porsche at the Two Toughest GT Races in the World" - 2020, YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=Lvbkr-nXpjE&feature=youtu.be

Alex Steudel ist Sportjournalist und seit seiner Kindheit glühender Sportfan. Mitte März brach alles weg: Kein Livesport mehr weit und breit. Um den Entzug erträglich zu machen, stieg Steudel auf eine Ersatzdroge um: Dokumentationen oder Biografien – meistens, aber nicht immer handeln sie von Fußball. Es geht ihm inzwischen viel besser. Ach was, es geht ihm super: Er hat eine neue Welt entdeckt. In dieser Kolumne erzählt er davon.

Die bisherigen Teile der Kolumne von Alex Steudel:

- Ich hab' euch bei Netflix weinen sehen!

- Gabriel Jesus' Tränen - ich bin gerettet!