Was die Wiederwahl von Erdoğan für die Türkei und den Westen bedeutet

Was die Wiederwahl von Erdoğan für die Türkei und den Westen bedeutet

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat am Sonntag die Präsidentschaftswahlen gewonnen und damit seine Herrschaft auf ein drittes Jahrzehnt ausgedehnt.

Nach Auszählung von 99 % der Wahlurnen lag Erdoğan mit 52 % der Stimmen deutlich vor seinem Rivalen Kemal Kilicdaroglu (48 %), wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtet.

Die Wahl wurde als eine der folgenreichsten in der jüngeren Geschichte der Türkei angesehen, weil die Opposition sich wegen der fatalen Lebenshaltungskostenkrise während Erdoğan Regierungszeit gute Chancen ausrechnete, ihn zu stürzen.

Aber welche Auswirkungen wird der Wahlausgang auf die Türkei und den Westen haben?

Erdoğan könnte seine Macht noch fester an sich reißen

Erdoğan, der dienstälteste Staatschef in der Geschichte der türkischen Republik, hat in seiner Amtszeit die Macht gefestigt und ein Präsidialsystem für sich selbst eingeführt.

Kritiker sagen, der 69-Jährige habe die Türkei von ihren demokratischen Grundlagen weg und hin zu einer autoritären Herrschaft geführt.

Er hat Proteste gegen die Regierung niedergeschlagen und sich einer Korruptionsermittlung gegen seinen engsten Kreis entzogen.

Erdoğan hat die Kontrolle über die meisten türkischen Institutionen übernommen und Liberale und Kritiker ins Abseits gedrängt. In seinem Weltbericht 2022 stellt Human Rights Watch fest, dass Erdoğans AK-Partei (AKP) die Menschenrechtsbilanz der Türkei um Jahrzehnte zurückgeworfen hat.

Ilke Toygür, Professorin für europäische Geopolitik an der Universität Carlos III in Madrid, sagte, dass Erdoğan bei einem Sieg noch mehr weitergehen könnte.

"Ich würde sogar eine noch beängstigendere Haltung erwarten, wenn es um die Demokratie und die Außenpolitik geht", sagte sie im Mai gegenüber Euronews.

Islamischer Einfluss könnte wachsen

Erdoğan ist bei konservativen und religiösen Wählern beliebt.

Nach Jahrzehnten eines streng säkularen Regimes hat er die Rechte konservativer Muslime verteidigt und Frauen das Tragen des Kopftuchs in öffentlichen Gebäuden wie Universitäten und im öffentlichen Dienst erlaubt, wo es zuvor verboten war.

Erdoğan könnte in der kommenden Zeit eine radikalere Politik verfolgen, da er vor den Wahlen sein Bündnis mit islamistischen Gruppen wie Hüda Par und Yeniden Refah ausgeweitet hat.

Seine Regierung könnte von diesen Parteien unter Druck gesetzt werden, eine stärker islamistische Politik zu verfolgen.

Krise bei den Lebenshaltungskosten

Die Wahl fand inmitten einer verheerenden Wirtschaftskrise statt, die durch die schlimmen Erdbeben im Februar noch verstärkt wurde.

Wirtschaftswissenschaftler sagen, dass Erdoğans unorthodoxe Politik der niedrigen Zinssätze trotz steigender Preise die Inflation im letzten Jahr auf 85 % getrieben hat, wobei die Lira im Laufe des letzten Jahrzehnts auf ein Zehntel ihres Wertes gegenüber dem Dollar abgestürzt ist.

Analysten gehen davon aus, dass Erdoğans erste Priorität darin bestehen wird, die Wirtschaft in Ordnung zu bringen, aber vor den Kommunalwahlen im Jahr 2024 sind keine größeren Änderungen des Wirtschaftsmodells zu erwarten.

"Es gibt viele wirtschaftliche Probleme in der Türkei. Das ist also der schwächste Punkt des Erdoğan-Regimes", sagte der Wirtschaftswissenschaftler Arda Tunca gegenüber Euronews.

In der vergangenen Woche wurde berichtet, dass die AKP in der Frage der künftigen Wirtschaftspolitik gespalten ist und einige nach einer Alternative zu Erdoğans umstrittenem Programm suchen.

Nach dem verheerenden Erdbeben im Februar dachten die Gegner, die Wähler würden ihn für die anfänglich langsame Reaktion des Staates abstrafen.

Doch im ersten Wahlgang am 14. Mai, der auch Parlamentswahlen umfasste, ging die AKP in zehn der elf von den Erdbeben betroffenen Provinzen als Siegerin hervor und sicherte sich so zusammen mit ihren Verbündeten eine parlamentarische Mehrheit.

Obwohl Erdoğan den Nationalismus nutzt, um seine Popularität aufrechtzuerhalten, ist es unwahrscheinlich, dass die Wirtschaftskrisen schnell gelöst werden.

Außenpolitische Konsequenzen - kompliziertes Verhältnis zum Westen

Die Niederlage von Kılıçdaroğlu, der versprochen hatte, das Land auf einen demokratischeren und kooperativeren Weg zu bringen, wird in Moskau wahrscheinlich bejubelt werden.

In den westlichen Hauptstädten könnte sie allerdings betrauert werden, weil die Türkei in der Außenpolitik eine konfrontativere und unabhängigere Haltung eingenommen hat.

Unter Erdoğan hat die Türkei ihre militärische Macht im Nahen Osten und darüber hinaus demonstriert und engere Beziehungen zu Russland geknüpft. Gleichzeitig werden die Beziehungen zur Europäischen Union und zu den Vereinigten Staaten zunehmend angespannt.

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat Erdoğan einen diplomatischen "Spagat" vollzogen, indem er sich westlichen Sanktionen gegen Russland widersetzte, und gleichzeitig Drohnen nach Kiew schickte.

Experten zufolge will Erdoğan nicht völlig mit dem Westen brechen, sondern nur seinen eigenen Weg gehen.

Wahrscheinlich wird er auch weiterhin ein umstrittenes und kompliziertes Verhältnis zum Westen haben.

"Die Türkei bricht mit dem Westen, obwohl sie geistig ein NATO-Mitglied ist, so ist die Türkei nicht mehr Teil der NATO", sagte die Wirtschaftswissenschaftlerin Arda Tunca.