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WM-Rückblick: Was von Katar bleibt

Die WM in Katar ist Geschichte. Endlich, werden viele denken. Doch was bleibt von diesem denkwürdigen, merkwürdigen Fußballturnier in der Winterwüste?

Lionel Messi feiert den WM-Sieg mit dem Pokal auf den Schultern seiner Mannschaftskollegen. (REUTERS/Kai Pfaffenbach)
Vorn wird noch gefeiert, hinten ist das Stadion schon leer. Die WM in Katar ist vorbei. (Bild: REUTERS/Kai Pfaffenbach)

Klar, dieses wahnsinnige WM-Finale hat nun alles überschattet. Es gab wohl selten ein Fußballspiel, das so begeisternd war, so viele Wendungen und schließlich so ein märchenhaftes Ende bot, wie dieses Spiel zwischen Argentinien und Frankreich. Böse formuliert: Schöner hätten sich die WM-Planer aus dem Emirat und von der FIFA ihren Schlussakt nicht choreografieren können. Bis hin zum Duell der beiden Superstars vom Katar-eigenen Prestigeclub PSG passte alles ins Bild. Gut, dass es bei der Abschluss-Feier doch noch ein paar deutliche Erinnerungen an all die Absurdität dieser Wüsten-WM gab.

Penis-Gesten und politische Anbalzereien

Angefangen von der pubertären Bühnen-Obszönität von Argentiniens Torwart Martinez, die jetzt vermutlich mehr Menschen mit ihm verbinden, als seine gehaltenen Elfmeter, bis hin zur peinlichen Selbstinszenierung von Frankreichs Präsident Macron, der sich als Mbappé-Tröster gleich mehrfach ins Rampenlicht drängte. Und die Krone setzen dem ganzen Spektakel dann standesgemäß der Emir von Katar unter willfähriger Mithilfe von FIFA-Präsident Gianni Infantino auf, als sie Messi vom Weg zum Pokaljubel abhielten und ihm einen traditionellen arabischen "Bischt" aufzwangen, so dass der argentinische Superstar im größten Moment seiner Karriere seltsam verkleidet aussah. So wurden die Zuschauer*innen auf der ganzen Welt selbst nach diesem atemlosen Finale noch einmal daran erinnert, was für ein absurdes Spektakel diese WM eigentlich war.

Große Begeisterung herrschte wohl nur bei zwei von drei Beteiligten bei diesem finalen Schauspiel. (Bild: REUTERS/Hannah Mckay)
Große Begeisterung herrschte wohl nur bei zwei von drei Beteiligten bei diesem finalen Schauspiel. (Bild: REUTERS/Hannah Mckay)

Verblendung bei der FIFA - Erfolg für Katar

Spätestens die Farce um die "One Love"-Armbinde als lächerlich harmloses Zeichen zeigte, wie wenig die Verbände gewillt sind, sich mit der FIFA oder ihren Geldgebern anzulegen. Was zugleich jegliche Hoffnung auf wirkliche Veränderungen in dem mächtigsten Sportverband der Welt erstickte. Da brauchte es nicht einmal Infantinos teils wirre Reden. Versteht sich von selbst, dass der FIFA-Boss und auch das WM-Orgateam hinterher von einem vollen Erfolg sprachen. (Oder in Infantino-Sprech: Der "besten WM aller Zeiten.")

Aus einem organisatorischen Gesichtspunkt mag das mit dem Erfolg sogar stimmen. Auch wenn mit 765.000 ausländischen Besucher*innen weniger WM-Gäste kamen, als erwartet, blieb das prophezeite Chaos aus. Die Stadien waren meist gut gefüllt, auch die Infrastruktur funktionierte größtenteils. Katar hat geliefert, was es versprochen (und teuer bezahlt) hatte und dafür die Aufmerksamkeit der Welt bekommen.

Doch die Fragen zu Menschenrechten und dem Preis dieser WM bleiben. Auch während des Turniers verunglückten mindestens zwei Gastarbeiter tödlich. Tausende Arbeiter*innen wurden zudem bereits vor der WM ausgewiesen, wohl auch, um die schönen Bilder nicht zu stören. Wieviele Menschenleben der irrsinnige Aufbau der WM-Infrastruktur in den vergangenen zwölf Jahren wirklich gekostet hat, dürften wir wohl niemals abschließend erfahren.

Selbst wenn das "Kafala"-System, das faktische Abhängigkeiten schafft, angeblich abgeschafft ist, verbleiben nach wie vor etwa zwei Millionen Gastarbeiter*innen in dem Emirat. Nun, nach der Weltmeisterschaft, wird sich das Augenmerk der Weltöffentlichkeit wieder von ihnen und ihren Lebensumständen abwenden. Ob diese sich wirklich so verbessert haben, wie von WM-Befürwortern stets beteuert, darf bezweifelt werden. Ob der Fußball das durch den Imageschaden verlorene Interesse zumindest hierzulande wiedergewinnen kann, ist auch fraglich. Das ZDF jedenfalls vermeldete nun eine "30 bis 40 Prozent geringere Sehbeteiligung" als bei vergangenen Turnieren.

Löwen-Mamas gewinnen die Herzen

Die Begeisterung der arabischen Welt und der katarischen Bevölkerung für Fußball, die ja in der Rundum-Kritik im Vorlauf der WM immer wieder angezweifelt wurde, wurde hingegen spätestens mit dem Triumphzug der Marokkaner unter Beweis gestellt. Niemand begeisterte in der Underdog-Rolle so sehr, wie die "Löwen vom Atlas", deren historischer Weg erst im Halbfinale durch Frankreich gestoppt wurde. Als erstes arabisches und afrikanisches Team schaffte es die Mannschaft unter die besten Vier der Welt. Dazu begeisterten die Spieler mit Teamfußball, letztem Einsatz und nicht zuletzt den rührenden Bildern der mitgereisten Mamas, die ihre Söhne in Katar begleiteten.

Niemand feierte so schön, wie die marokkanischen Spieler mit ihren Müttern - und mit ihnen die ganze arabische Welt. (Bild: REUTERS/Paul Childs)
Niemand feierte so schön, wie die marokkanischen Spieler mit ihren Müttern - und mit ihnen die ganze arabische Welt. (Bild: REUTERS/Paul Childs)

Dass es im kleinen Finale gegen das zweite Überraschungsteam Kroatien nicht zu Platz Drei reichte, spielte da schon fast keine Rolle mehr. Für die arabische Welt war nicht nur Marokkos Triumph, sondern auch die Austragung in Katar ein besonderer und stolzer Moment. Welche Bedeutung das Turnier für viele Menschen der Region hat, wurde in der kritischen Berichterstattung oft ein wenig übersehen.

Die mutigste Geste kam wohl vom iranischen Team. Denn die Verweigerung, die Nationalhymne zu singen und so gegen die gewalttätige Niederschlagung der Demonstrationen in der Heimat zu protestieren, kostete weit mehr Mut, als jede Armbinde oder jede zarte Menschenrechtsgeste der europäischen Spieler und Verbände. Die Iraner mit fest verschlossenen Mündern vor dem Auftaktspiel gegen England dürfte eines der stärksten Bilder dieser WM bleiben.

Brasilianischer Zauber und episches Generationen-Duell

Das Turnier brauchte sportlich etwas, um ins Rollen zu kommen. Highlights gab es trotzdem. Das wohl schönste Tor der WM schoss der Brasilianer Richarlison. Wobei es wohl Geschmacksache ist, ob man eher seinen Seitfallzieher zum 2:0 gegen Serbien oder die brasilianische Zauber-Kombi beim 4:1 über Südkorea bevorzugt. Fast noch schöner, als die Tore waren aber die Pässe, mit denen die beiden Altmeister Messi (35) und Luka Modrić (37) immer wieder die Lücken in den Abwehrreihen fanden.

Das wohl schönste Tor der WM: Richarlison im Flug gegen Serbien. (Bild: Yukihito Taguchi-USA TODAY Sports)
Das wohl schönste Tor der WM: Richarlison im Flug gegen Serbien. (Bild: Yukihito Taguchi-USA TODAY Sports)

Ein Nebenschauplatz des grandiosen Finales war Messis und Mbappés Privatduell um die Torjägerkrone. Der junge Franzose schnappte sie seinem PSG-Teamkollegen mit drei zu zwei Final-Toren (plus je eins im Elfmeterschießen) schließlich vor der Nase weg. Acht Turniertreffer hatte seit 1970 nur noch ein Spieler erzielt, der Brasilianer Ronaldo beim Titelgewinn 2002. Mbappé ist mit seinen vier WM-Finaltoren schon jetzt Rekordhalter. Mit jetzt insgesamt zwölf WM-Treffern ist er Messi (13) und Rekordhalter Miroslav Klose (16) eng auf den Fersen. Ach ja, am 20. Dezember hat Kylian Mbappé übrigens Geburtstag. Er wird 24.

Die Zukunft des Weltfußballs gehört nun seiner Generation und vielleicht auch ein paar neuen Gesichtern. Denn neben dem Halbfinaleinzug Marokkos zeigten auch die Erfolge von Japan und Kroatien (sowie das recht frühe Ausscheiden von Spanien, den Niederlanden und nicht zuletzt Deutschland), dass auch die vermeintlich kleinen Nationen aufgeholt haben. Dem Fußball kann der stärkere Wettbewerb nur gut tun.

Große Abschiede

Sollte das wirklich Messis letzter Auftritt im Nationaltrikot oder zumindest bei einer WM gewesen sein, hätte seine Karriere nicht schöner gekrönt werden können. Mit dem ersten Titel für Argentinien seit Maradonas Triumph 1986, als herausragender Akteur dieser WM: Mit "La Pulga", dem Floh, geht einer der besten Fußballspieler der Geschichte. Passend, dass es wohl auch die letzte Weltmeisterschaft von seinem ewigen Kontrahenten Cristiano Ronaldo war. Dessen Abschied von der WM-Bühne verlief allerdings weit weniger glamourös. Zum Bankspieler degradiert, konnte "CR7" das Aus im Viertelfinale gegen Marokko nicht verhindern und verließ das Stadion mit gesenktem Haupt.

Nicht mit gesenktem Haupt konnte hingegen Reporterlegende Béla Réthy seine 30-jährige Laufbahn beim ZDF beenden, nachdem er das Halbfinale zwischen Frankreich und Marokko moderiert hatte. Für viele deutsche Fußballfans gehörte der 66-Jährige fest zum WM-Programm, mit emotionalen "Béla Ciao"-Gesängen wurde er nun im Studio verabschiedet.

Und das deutsche Team?

Was mit einer unglücklichen Figur in der "One Love"-Armbinden-Affäre begann, endete mit einer krachenden Landung auf dem Boden der Realität. Mit viel Hoffnung und dem neuen Flick-Elan ging die DFB-Elf ins Turnier. Doch anstatt das blamable Aus von Russland vergessen zu machen, stolperte das Team erneut schon in der Vorrunde. Nur im Duell mit Spanien war eine wirklich starke Leistung zu sehen, das reichte nicht. In der offiziellen Endabrechnung wurde "die Mannschaft" 17. der WM. Und nun sitzt der Verband kurz vor der Heim-EM mit vielen offenen Fragen da. Für einige Spieler wird Katar ihr letztes Turnier gewesen sein. Thomas Müller wird wohl nicht mehr zurückkehren, beim verletzten Stammkeeper Manuel Neuer ist die Zukunft offen. Flick macht weiter, Geschäftsführer Bierhoff dafür nicht mehr. Beheben soll dieses Dilemma eine Riege altbekannter (männlicher) Gesichter. Man darf gespannt sein, ob diese die erhoffte Wendung bringen. Zwei Mini-WM-Helden gab es aber mit Jamal Musiala und dem spätberufenen Doppeltorschützen Niclas Füllkrug trotzdem.

Das Fazit aus vier Wochen Katar: Messi hat die verdiente Krönung bekommen. Die Zukunft gehört Mbappé. Die Fußballwelt ist ein Stück größer geworden. Doch der Kommerz - oder sollte man es Korruption nennen? - überwiegt gegen die Menschenrechte. Und die FIFA wird sich wohl niemals ändern. Das wird auch das schönste Finale nicht gänzlich vergessen machen.

Im Video: "Sportswashing" - Rückblick und die Probleme rund um die WM in Katar | 2 nach 10